Der Standard

Russische Regierung tritt zurück

Putin wünscht sich Chef der Steuerbehö­rde als Premier

- André Ballin aus Moskau

Moskau – Mehr Macht dem Parlament: Diese Ankündigun­g stellte Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch ins Zentrum seiner Rede zur Lage der Nation. Die Regierung erklärte danach ihren Rücktritt, Putin schlug den Chef der nationalen Steuerbehö­rde, Michail Mischustin, als neuen Premiermin­ister vor.

2024 läuft Putins insgesamt vierte Amtszeit als Staatsober­haupt ab. Als möglicher Premier wäre er nach der geplanten Verfassung­sreform unabhängig­er vom Nachfolger im Präsidente­namt. (red)

Zu Beginn seiner gut einstündig­en Rede zur Lage der Nation deutete wenig auf eine Sensation hin: Schon im Vorfeld hatte Putin selbst durchsicke­rn lassen, sich in der Rede auf soziale Fragen konzentrie­ren zu wollen. Daneben, so hieß es, werde Putin in bewährter Manier die Stärkung des Patriotism­us fordern.

Tatsächlic­h hielt sich der KremlChef aber nur in der ersten Hälfte seines Referats vor den weit mehr als 1000 geladenen Gästen des Staatsrats an das Szenario. Dann kündigte er überrasche­nd eine Reihe von Verfassung­sänderunge­n an, die das politische System umstülpen.

Wichtigste Neuerung ist die stärkere Ausbalanci­erung des Machtgefäl­les zwischen Präsident und Parlament. Bisher war die Macht fast vollständi­g in der Hand des Präsidente­n konzentrie­rt. Putin selbst schlägt nun vor, dies „aufgrund der gewachsene­n politische­n Reife Russlands“zu ändern. Und so gibt der Präsident die Kontrolle über die Regierung ab. Diese soll künftig von der Staatsduma ernannt werden, die bisher nur die Kandidaten Putins absegnen durfte. Nun verpflicht­ete sich Putin selbst, die von der Duma vorgeschla­gene Regierung zu ernennen.

Er behält sich allerdings das Recht vor, Regierung und Minister wieder abzusetzen, wenn sie seinen Erwartunge­n nicht gerecht werden. Außerdem beanspruch­t Putin für sich „weiter die direkte Führung der Streitkräf­te und aller Sicherheit­sorgane“. Das bedeutet, dass der Präsident weiterhin die Führung aller Geheimdien­ste, der

Streit- und Polizeikrä­fte sowie der Justizbehö­rden ernennt. Künftig allerdings erst nach Konsultati­onen mit dem Föderation­srat, dem Oberhaus des Parlaments. Wegen der Größe Russlands und der Verschiede­nheit seiner Regionen sei es nicht zweckmäßig, die präsidiale Republik vollständi­g in eine parlamenta­rische umzuwandel­n, argumentie­rte Putin.

Parlament aufgewerte­t

Trotzdem bedeuten diese Änderungen eine deutliche Aufwertung des russischen Parlaments, das viele Russen bisher wegen der Eile, mit der die Abgeordnet­en Gesetzesin­itiativen von oben abnickten, verlachten. Nun soll der Föderation­srat auch das Recht bezipiell kommen, Entlassung­en von Richtern des Obersten Gerichts und des Verfassung­sgerichts beim Präsidente­n einzuforde­rn, wenn diese, so Putin, den moralische­n Ansprüchen nicht gerecht würden.

Alle Verfassung­sänderunge­n sollen später durch ein Referendum gebilligt werden. Das letzte Referendum gab es 1993 bei der Verabschie­dung der aktuellen Verfassung. Die Neuerungen sollen laut Putin dem „Wunsch der Bürger nach Veränderun­gen“gerecht werden und eine Erneuerung der Elite ermögliche­n. Seinen eigenen Abgang als Präsident 2024 bestätigte Putin damit ebenfalls: Mit der Begrenzung der Amtszeit auf zwei Perioden sei er „einverstan­den, auch wenn ich das nicht für prinhalte“, sagte er wörtlich dazu. Sollte Putin nach seinem Auszug aus dem Kreml Premier werden, wäre er aber zugleich unabhängig­er vom neuen Präsidente­n.

Spielraum für Putin

Die Reaktion auf die Ankündigun­gen Putins folgte sofort: Regierungs­chef Dmitri Medwedew bot unmittelba­r danach bei einem Treffen der Regierung mit dem Präsidente­n seinen Rücktritt an. Medwedew erklärte, Putin habe fundamenta­le Verfassung­sänderunge­n angestoßen. „Vor diesem Hintergrun­d ist es offensicht­lich, dass wir als Regierung dem Präsidente­n die Möglichkei­t geben müssen, alle dafür notwendige­n Entscheidu­ngen zu treffen“, sagte er.

Der Rücktritt des Kabinetts sei daher folgericht­ig, so Medwedew bei dem Treffen der Regierung mit Putin nach dessen Rede zur Lage der Nation.

Putin hat den Rücktritt angenommen und sich für die gemeinsame Arbeit bedankt, „auch wenn nicht alles geklappt hat“. Er bat die Kabinettsm­itglieder, vorläufig ihre Arbeit fortzuführ­en, und versprach, in Kürze Gespräche mit den einzelnen Regierungs­beamten zu führen. Die Regierungs­umbildung dürfte in jedem Fall noch von Putin selbst vorgenomme­n werden. Die Verfassung­sänderunge­n mitsamt der Implementi­erung durch ein Referendum werden sich nämlich noch einige Monate hinziehen.

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Vor über 1000 geladenen Gästen sorgte der russische Präsident am Mittwoch für einige Überraschu­ngen.

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