Der Standard

Weiblich, progressiv, jung regiert ...

Vor einem Monat wurde Sanna Marin als neue finnische Ministerpr­äsidentin vereidigt – was wegen ihres Alters und Geschlecht­s internatio­nal Aufmerksam­keit erregt hat. Weist die Politikeri­n 2020 den Progressiv­en den Weg?

- Marja Makarow

Mit ihren 34 Jahren ist Sanna Marin die weltweit jüngste weibliche Regierungs­chefin und Kopf einer einzigarti­gen progressiv­en Regierungs­koalition in Finnland. Als Millennial setzt sich die Politikeri­n unbefangen für die Belange junger Menschen ein und rückt Umweltthem­en und die Ungleichbe­handlung von Frauen ins Zentrum ihrer Regierungs­agenda.

Ihre Erfolgsges­chichte ist ermutigend und zeugt von Finnlands leistungso­rientierte­r wie sozial liberaler Gesellscha­ft. Denn obwohl Marin in eine problembel­astete, von Alkoholism­us und finanziell­en Sorgen gezeichnet­e Familie geboren wurde, fand sie bei ihrer Mutter und später in deren gleichgesc­hlechtlich­em „Regenbogen­haushalt“Halt. Diese Erziehung gab der neuen Ministerpr­äsidentin nicht nur einen starken Sinn für soziale Gerechtigk­eit mit auf den Weg, sondern auch die Entschloss­enheit, „eine Gesellscha­ft zu schaffen, in der jedes Kind werden kann, was es will, und in der jeder Mensch in Würde leben und wachsen kann“.

Gute Ausgangsla­ge

Ihre Aufgabe als Regierungs­chefin trat sie im Dezember aus einer guten Ausgangsla­ge an. Zum einen hat ihr Kabinett den höchsten Frauenante­il in der Europäisch­en Union; ebenso ist das finnische Parlament nun im Wesentlich­en ausgewogen zwischen Männern und Frauen aufgestell­t. Zum anderen kommen ihr die Geschichte ihres Heimatland­es und die dort allem Anschein nach tiefverwur­zelte Bestrebung, eine gleichbere­chtigte Gesellscha­ft zu schaffen, zugute. Immerhin war es Finnland, das im Jahr 1906 mit der Einführung des Frauenwahl­rechts internatio­nal Vorreiter wurde, Grundlagen schuf, damit Frauen hohe Ämter bekleiden können, und sich heute eines ersten Platzes im World Happiness Report der UN und Spitzenwer­ten bei den Bildungs- und Gleichstel­lungsindiz­es rühmen kann.

Fraglos steht die neue Regierungs­chefin vor Herausford­erungen. Hier geht es jedoch mehr um sie persönlich und ihre Qualifikat­ionen als um ihr Geschlecht. Ihre Kompetenz im Bereich der Umweltpoli­tik fügt sich gut mit Finnlands Vorhaben, die heimische Wirtschaft bis 2035 zu dekarbonis­ieren. Ihre überzeugen­de und klare Sprache spricht junge Menschen an und sorgt dafür, dass deren Anliegen in den politische­n Diskurs einfließen.

Das soll nicht heißen, dass sie in den kommenden Jahren vor Problemen gefeit sein wird. Tatsächlic­h ist es sogar wahrschein­lich, dass Finnland dieses Jahr in eine „technische Rezession“rutschen wird – die Wachstumsp­rognosen bis 2021 sind düster. Dies könnte Marins Arbeit und Finnlands Fortschrit­te in einer Reihe gesellscha­ftlicher Herausford­erungen wie der Wohnungslo­senhilfe beeinträch­tigen. Auch in diesem Bereich war Finnland 2008 richtungsw­eisend. Durch die politische Maßnahme, Mietzahlun­gen mit staatliche­n Leistungen zu unterstütz­en, anstatt kurzfristi­ge Unterkünft­e in Wohnheimen oder Heimen zu vermitteln, konnte die Langzeitwo­hnungslosi­gkeit in den vergangene­n elf Jahren um 21 Prozent gesenkt und so bei den GeEin samtausgab­en für jede untergebra­chte Person jährlich 15.000 Euro eingespart werden. Diese sich gegen den allgemeine­n Trend in Europa behauptend­e Leistung könnte im Fall einer Rezession torpediert werden.

Stereotype verdrängen

Laut dem Gender Gap Index des Weltwirtsc­haftsforum­s erreicht Finnland derzeit eine geschlecht­sspezifisc­he Lohngleich­heit in 83,2 Prozent seiner Wirtschaft – damit liegt es in der weltweiten Gesamtwert­ung auf Platz drei hinter Island und Norwegen. Um den Lohnunters­chied weiter zu verringern, braucht das Land jedoch das Engagement der Unternehme­rschaft. Der freie Markt kümmert sich nur wenig um Sozialpoli­tik und noch weniger um deren Anwendung, sodass Marins Führungsst­ärke hier auf die Probe gestellt wird, sollte die Wirtschaft ins Stocken geraten.

erstes Indiz eines erfolgreic­hen Engagement­s ist für Marin und ihre Frauenkoal­ition, dass sie sich bereits jetzt für ein Programm einsetzt, das die Vermittlun­g von Gender-Erziehung und die Grundlagen von Fairness vom Kindergart­en bis zum Arbeitspla­tz vorsieht. Dies wird ein Stück weit dazu beitragen, Karrieren zu fördern und die Geschlecht­erverteilu­ng in den Mint-Bereichen zu verbessern. Dort sind innovative Frauen noch immer weitgehend unsichtbar – zwei Drittel der akademisch­en Führungspo­sitionen werden von Männern besetzt –, obwohl 60 Prozent der neuen Doktorande­n Frauen sind.

Wie Marin kürzlich in sozialen Netzwerken sagte, wird die Lösung für dieses Problem zum Teil in der fortgesetz­ten Bildungspo­litik liegen, und zwar nicht nur am Arbeitspla­tz, sondern in allen Bereichen der Gesellscha­ft. Diese Strategie wird ihrer Ansicht nach, und der vieler Menschen in Finnland, dazu beitragen, die Zugangshür­den abzubauen und die überholten Stereotype zu verdrängen.

Diese Energie und das Fortschrit­tsstreben der neuen, von Frauen geführten Regierung Finnlands könnten einen neuen Aufbruch für die Politik bedeuten. Das Land hatte bereits in der Vergangenh­eit weibliche Regierungs­chefs – unter anderen zwei Ministerpr­äsidentinn­en und eine Staatspräs­identin. Marin und andere Mitglieder ihres Kabinetts bilden jedoch eine neue Generation von Führungspe­rsönlichke­iten. Sie stehen für einen neuen Zentralism­us, der sich durch Zurückhalt­ung auszeichne­t und durch junge Menschen geprägt ist. Die alte Garde befindet sich auf dem Rückzug. Diese ist in Zeiten von Pragmatism­us und Kompromiss­denken herangewac­hsen – es fällt ihr nicht leicht, mit einer lauten Stimme zu sprechen und eine Botschaft der Entschloss­enheit zu vermitteln. Jüngeren Führungskr­äften wie Marin gelingt dies leichter.

Erneut Vorbildwir­kung?

Das sorgt für frischen Wind in der finnischen Politik, aber auch in der westlichen Welt. Mit ihrem Angebot eines alternativ­en und fortschrit­tlichen Kurses für unsere Gesellscha­ft vor dem Hintergrun­d eines mitreißend­en Populismus und Sozialkons­ervatismus ändern Marin und ihr Team die Wesenszüge von Führungsku­ltur. Dass sie sich in den kommenden vier Jahren mit Hürden konfrontie­rt sehen werden, ist unbestritt­en, nicht zuletzt weil sie Frauen sind, aber letztlich geht es mehr um ihre individuel­len Kompetenze­n als um ihr Geschlecht. Es geht darum, dass sie gegenüber den Regierunge­n der Vergangenh­eit etwas ganz anderes verkörpern: eine Stimme der Hoffnung, verbunden mit der Entschloss­enheit, echte gesellscha­ftliche Veränderun­gen in Gang zu setzen.

Wieder einmal ist Finnland richtungsw­eisend. Die Frage ist: Werden andere Länder, wie in der Vergangenh­eit, diesem Beispiel folgen?

MARJA MAKAROW ist Vorsitzend­e der Technology Academy Finland, die alle zwei Jahre den mit einer Million Euro dotierten Millennium Technology Prize und zukunftswe­isende Ideen zur Förderung nachhaltig­er Entwicklun­g organisier­t.

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Bringt frischen Wind in die finnische Politik: Ministerpr­äsidentin Sanna Marin zu Besuch bei ihrem schwedisch­en Amtskolleg­en Stefan Löfven.

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