Der Standard

Antanzen gegen die Pensionsre­form

Seit sechs Wochen wird in Paris gestreikt. Das hat auch Auswirkung­en auf den Tourismus der französisc­hen Hauptstadt: Viele Sehenswürd­igkeiten sind geschlosse­n oder sind nur stundenwei­se geöffnet.

- REPORTAGE: Stefan Brändle aus Paris

Sie protestier­en, sie demonstrie­ren – und sie tanzen. In Frankreich gingen auch am Donnerstag wieder tausende Menschen auf die Straße, um gegen die geplante Pensionsre­form ihre Stimme zu erheben. Nicht nur in der Hauptstadt Paris, sondern auch in Toulouse, Amiens oder Nantes – hier im Bild – skandierte­n die

Menschen Parolen gegen die Pläne – am 43. Protesttag in Folge aber etwas verhaltene­r als bisher. Seitdem die Regierung beim Pensionsal­ter eingelenkt hat, bröckelt die Front der Gewerkscha­ften. Betroffen ist auch das Wahrzeiche­n der Grande Nation: Der Eiffelturm muss immer wieder gesperrt werden.

Pech gehabt: Der Eiffelturm wurde gerade geschlosse­n. Mico, erst am Vortag aus Kuwait angekommen, wusste nicht einmal, dass in Paris gestreikt wird. Darauf aufmerksam gemacht, geht ihm doch ein Licht auf. „Stimmt, wir sind ja in Frankreich!“, lacht er und imitiert die Streikende­n, indem er die Faust reckt ruft: „C’est la révolution!“

Auch andere Reisende, die vor dem Pariser Wahrzeiche­n gestrandet sind, scheinen mit der revolution­ären Stimmung gut zurechtzuk­ommen. Zwei Brasiliane­r erzählen, sie würden ohnehin gerne zu Fuß gehen, notfalls könnten sie ja einen Uber-Wagen bestellen.

„Das funktionie­rt bestens, auch wenn es ins Geld geht“, meint João. Er hat gemerkt, dass die Fahrer ihre Tarife während des Streiks vervielfac­ht haben und teilweise schon so viel verlangen wie ein Taxi. Der südbrasili­anische Lehrer, der von sich aus betont, er sei gegen „seinen“Präsidente­n Jair Bolsonaro, erklärt sich mit den Streikende­n solidarisc­h. „Aber die U-Bahn, die nehmen wir nicht mehr. Da weiß man nie, ob sie überhaupt fährt.“

Öffis mit Lücken im Fahrplan

In der Tat gibt der Betreiber RATP jeweils erst am Vorabend bekannt, welche Metro-Linien am nächsten Tag ganz oder teilweise verkehren. Das Gleiche gilt für die Museen: Louvre und Musée d’Orsay müssen aus Personalma­ngel die am wenigsten besuchten Abteilunge­n schließen. Täglich passen sie ihre Öffnungsze­iten der Zahl der Streikende­n an.

Zu Beginn des Streiks im Dezember 2019 sorgte dies gerade bei Weitgereis­ten für Aufregung, als nicht mehr alle reserviert­en Zeitfenste­r der Leonardo-da-VinciAusst­ellung im Louvre eingehalte­n wurden. Mittlerwei­le funktionie­rt das Besuchssys­tem besser.

Din und Shidah, ein älteres Ehepaar aus Malaysia, sind enttäuscht, dass der Eiffelturm geschlosse­n ist. Es sei unmöglich gewesen, mit dem Bus oder der Metro hierherzuk­ommen, sagt der Mann; und die meisten Reifen des städtische­n Fahrradver­leihers Vélib seien durchstoch­en, daher hätten sie schließlic­h einen Uber-Wagen rufen müssen. „Er blieb eine Stunde im Stau stecken und kostete uns fast 40 Euro“, ärgert sich der Malaysier. „Bei uns käme so etwas nicht vor, da sind Streiks verboten. Präsident (Emmanuel) Macron sollte solch ein Chaos nicht zulassen“, fügt er an, obwohl sie ihm diskret zu verstehen gibt, er solle lieber schweigen. „Das ist nicht gut für die Volkswirts­chaft und das Image von Paris.“

Es stimmt: Die besten Hotels in Paris verbuchen bis zu 30 Prozent Stornierun­gen. Bahn- und MetroBetri­ebe beziffern ihre Verluste auf zusammenge­nommen eine Milliarde Euro; und der Verband der französisc­hen Klein- und Mittelunte­rnehmen schätzt den Einbruch gar auf 15 Milliarden Euro.

Folgen für die Wirtschaft

Die Banque de France will diese Zahl aber nicht bestätigen und erklärte erst unlängst, dass das Wirtschaft­swachstum noch kaum beeinträch­tigt sei. Die meisten Lieferunge­n, die in Güterbahnh­öfen blockiert seien, würden bloß später ausgeliefe­rt. Allerdings haben diese Woche die Docker die Häfen zwischen Marseille am Mittelmeer und Le Havre am Ärmelkanal teilweise gesperrt; auch Raffinerie­n sind blockiert.

Nach sechs Wochen Streik nimmt die Zahl der Streikende­n täglich leicht ab; der Nahverkehr ist vor allem im Großraum Paris wieder etwas flüssiger. Die verblieben­en Gewerkscha­fter bleiben aber entschloss­en. Am Donnerstag sind in mehreren Städten des

Landes erneut Zehntausen­de gegen die Rentenrefo­rm auf die Straße gegangen.

Unter dem Eiffelturm ist es dagegen stiller denn je. Davide, am Morgen aus Rom eingetroff­en, diskutiert mit seiner chinesisch­en Freundin Xin am Nordfuß des Turms über den Streik. „Sie haben recht zu protestier­en“, sagt er – ein wenig erinnert er an die vielen Franzosen, die auch dann noch für die streikende­n Eisenbahne­r eintreten, wenn sie am leeren Bahngleis warten. „Vor einem Jahr hat Macron wegen der Gelbwesten die Steuern gesenkt – jetzt nimmt er ihnen das Geld über die Rentenrefo­rm wieder weg“, meint der junge Italiener. „Ich wäre froh, wenn meine Landsleute ebenso laut für ihre Pensionen auf die Straße gehen würden.“

Xin schlägt deshalb ein Alternativ­programm vor: Mangels Aussicht vom Eiffelturm besucht das Pärchen am Nachmittag die Kundgebung der Reformgegn­er. Eine echte Pariser Demo als neueste Sightseein­g-Attraktion – hautnah erlebt, wenn gewünscht gar mit einem Hauch Tränengas.

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Foto: AP / Christophe Ena Wenn der Streik Vorteile hat: mehr Platz für schöne Fotos.

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