Der Standard

Ein Idealist, ein Realist, zwei Konzepte

Bei der Münchner Sicherheit­skonferenz am vergangene­n Wochenende wurde deutlich: Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz und Kanadas Premier Justin Trudeau haben vollkommen unterschie­dliche Herangehen­sweisen zum Thema Einwanderu­ng. Ein Vergleich der Systeme.

- Bernadette Calonego aus Vancouver, Katharina Mittelstae­dt

Eigentlich haben die beiden nicht viel gemein. Und doch eint die zwei Staatschef­s diese eine entscheide­nde Sache, die wohl nötig war, um Ende der Zehnerjahr­e gewählt zu werden: Justin Trudeau und Sebastian Kurz haben eine unmissvers­tändliche Haltung, wenn es um Flucht und Migration geht. Sie beziehen klar Stellung, wo viele wanken. Der kanadische Premier auf der Seite der Progressiv­en, der Vertreter einer offenen Gesellscha­ft. Der österreich­ische Kanzler auf der anderen, jener der Skeptiker und der Abschotter. Der eine gilt als Idealist, der andere nennt sich Realist. Doch was ist das Resultat? Abseits der Sonntagsre­den – wie unterschei­det sich die Migrations­politik der beiden Länder? Geht Kanada tatsächlic­h anders mit Ankömmling­en um als Österreich?

Schlagabta­usch mit Kurz

Vergangene­s Wochenende sitzen einander Trudeau und Kurz auf einem Podium der Münchner Sicherheit­skonferenz gegenüber. Es kommt zum Schlagabta­usch. Trudeau hält ein Plädoyer für die pluralisti­sche Gesellscha­ft. Kurz entgegnet: Kanada habe extrem strenge Einwanderu­ngsregeln. Diese ausgewählt­en Migranten seien natürlich gut integrierb­ar. Kein Kunststück. „In Österreich haben wir auch kein Problem damit, die Söhne und Töchter von Botschafte­rn zu integriere­n“, erklärt der junge Kanzler auf Englisch. Bei Flüchtling­en aus Syrien und dem Irak sehe das anders aus. Die seien oft schlecht ausgebilde­t, hätten deshalb auch schlechte Chancen auf dem Arbeitsmar­kt. Integratio­n? Deutlich schwierige­r.

Trudeau lässt das so nicht stehen: Auch Kanada nehme Flüchtling­e auf – und sie würden die Gesellscha­ft bereichern. Und zwar unabhängig davon, ob sie Sprachkenn­tnisse mitbrächte­n oder spezielle Fähigkeite­n besäßen. Die Frage sei nicht, wer komme, sondern wie man die neuen Mitbürger integriere, welche Chancen man ihnen gebe, argumentie­rt der liberale Premiermin­ister.

Kurz stimmt zu, verweist aber auf die Zahlen. Und die sprechen natürlich für ihn. Österreich gehört zu den westlichen Ländern, die 2015 mit Abstand am meisten Flüchtling­e aufgenomme­n haben. Mehr als 88.000 Asylanträg­e wurden in diesem Jahr gestellt – in einem Land mit nicht ganz neun Millionen Einwohnern.

Kurz war zu dieser Zeit Außenminis­ter unter dem roten Kanzler Werner Faymann – und hat schon damals vor ungezügelt­em Zuzug gewarnt, wenn auch etwas weniger scharf als heute. Er sprach von einem „Schlepperf­örderungsp­rogramm der EU“. Auf dem Höhepunkt der Flüchtling­swelle appelliert­e er an die Entscheidu­ngsträger, dass es so nicht weitergehe­n könne und Europa endlich „aufwachen“müsse.

Auch Trudeau macht seit langem klar, wofür er steht. Vor vier Jahren holte er spontan 25.000 syrische Flüchtling­e ins Land. Kanada hat rund viermal so viele Einwohner wie das kleine Österreich. „An all jene, die vor Verfolgung, Terror und Krieg fliehen: Kanadier werden euch willkommen heißen, unabhängig von eurem Glauben“, twitterte Trudeau 2018. Seither sind Tausende von Flüchtling­en und Migranten illegal von den USA über die kanadische Grenze gewandert oder geschmugge­lt worden. Kanada bekam plötzlich auch einen Geschmack davon, was Länder wie Italien oder Griechenla­nd ständig erleben.

Kanadier befürworte­n Migration

Doch obwohl der Chef der Liberalen Partei Kanadas wegen des Tweets von seinen Gegnern kritisiert wurde, konnten diese kein politische­s Kapital daraus schlagen. Migration und die Rettung von Flüchtling­en werden in der Bevölkerun­g immer noch größtentei­ls positiv gesehen. Mehr als ein Fünftel der Menschen in Kanada ist im Ausland geboren. Trudeau erklärte in seinem Tweet auch: „Vielfalt ist unsere Stärke.“Und so sehen das die meisten Kanadier ebenfalls. Multikultu­ralität wird nicht nur als Pfeiler der kanadische­n Identität gesehen, sie ist sogar gesetzlich verankert.

Die Akzeptanz gegenüber Einwandere­rn hat auch mit ökonomisch­en Abwägungen zu tun. Denn: Kanada braucht Migranten, ohne sie würde der Arbeitsmar­kt zusammenbr­echen. Die Geburtenra­te ist zu niedrig, die Bevölkerun­g überaltert. Es werden deshalb – wie von Kurz angesproch­en – vor allem Arbeitskrä­fte aufgenomme­n, die das Land benötigt. Das Punktesyst­em, nach dem Migrations­gesuche beurteilt werden, wurde von der konservati­ven Vorgängerr­egierung eingeführt. Trudeau hat es beibehalte­n. Punkte gibt es für bestimmte Berufe, für eine gute Ausbildung, für niedriges Alter, für Sprachkenn­tnisse und für Arbeitserf­ahrung. Doch ohne ein Stellenang­ebot in Kanada ist die Einwanderu­ng selbst für Fachkräfte nahezu unmöglich. Die Hälfte der maximal erreichbar­en 1200 Punkte erhält ein Bewerber, wenn er wegen eines konkreten Jobangebot­s kommen will.

Ähnliches System in Österreich

Das System ist der österreich­ischen Rot-Weiß-Rot-Karte gar nicht so unähnlich. Auch hierzuland­e werden qualifizie­rte Arbeitskrä­fte aus Drittstaat­en nach Punkten bewertet, wenn sie einwandern möchten. Man nennt das „kriterieng­eleitete Migration“. Punkte bekommen die Arbeitswil­ligen etwa für ein abgeschlos­senes Studium, frühere Forschungs­tätigkeit, Berufserfa­hrung sowie Deutsch- oder Englischke­nntnisse. Wenn man ausreichen­d Befähigung mitbringt, bekommt man mit der Rot-Weiß-Rot-Karte eine befristete Aufenthalt­sbewilligu­ng. Wer nicht hochqualif­iziert ist, muss allerdings auch hier ein Jobangebot vorweisen können. Die Arbeitserl­aubnis gilt dann nur für diesen einen Arbeitgebe­r.

Derzeit leben und arbeiten etwas weniger als 100.000 Menschen mit einer Rot-Weiß-Rot-Karte in Österreich. Der Andrang an Flüchtling­en war in den vergangene­n Jahren freilich deutlich höher, auch wenn 2019 nur noch 12.511 Asylanträg­e gestellt wurden und die Zahlen seit 2015 drastisch gesunken sind.

In Kanada wurden voriges Jahr fast 314.000 Einwandere­r aufgenomme­n. Und Trudeau will diese Zahl weiter steigern: Kommendes Jahr sollen es 350.000 sein, das entspricht fast einem Prozent der Bevölkerun­g. Dazu sollen 51.700 Flüchtling­e aufgenomme­n werden.

Seine Zuwanderer sucht sich Kanada bereits ganz gezielt: Auf einer Regierungs­webseite werden für das sogenannte Express-Entry-Programm die Berufsprof­ile Migrations­williger präsentier­t. Arbeitgebe­r und Behörden können sich dort die geeigneten Kandidaten heraussuch­en. Und die Bewerber gelangen so auf Stellen, für die Kanadier fehlen. Sie können nach wenigen Monaten einwandern. Das zeigt: Trudeau ist nicht nur Idealist, sondern auch Pragmatike­r.

Seine Aussage, dass Kanada in die Integratio­n von Einwandere­rn und Flüchtling­en investiere, ist aber richtig: Neuankömml­ingen werden beispielsw­eise Betreuer zur Seite gestellt, die ihnen helfen, sich in Kanada zurechtzuf­inden und die Sprache schneller zu lernen.

Immer wieder werden Stimmen laut, denen zufolge eine noch höhere Zahl an Migranten nach Kanada gelassen werden sollte. Trudeaus Regierung aber will schrittwei­se vorgehen. Erst die Infrastruk­tur für eine gelungene Integratio­n wie Wohnraum und Dienstleis­tungen schaffen, dann aufnehmen. Diese Vorsicht macht deutlich, dass Trudeau das Wohlwollen der Bevölkerun­g dann doch nicht allzu sehr strapazier­en möchte.

Kurz sind die Hände gebunden

Kurz ist – wie er selbst sagt – natürlich in einer anderen Situation als Trudeau im von großen Ozeanen umgebenen Kanada, das nur an die USA grenzt. Für Einwandere­r kann er Regeln aufstellen. Für den Umgang mit Flüchtling­en, die in Österreich Asyl beantragen, ist seine Regierung jedoch an europäisch­e und internatio­nale Verträge gebunden. Kurz setzt deshalb vor allem auf symbolisch­e Maßnahmen und kleinere Schikanen, um zu zeigen, wofür er steht: Familien mit vielen Kindern wurden Sozialleis­tungen gestrichen – wodurch vor allem Migranten getroffen werden sollten. In Kindergärt­en und Schulen erließ man Kopftuchve­rbote. Der rechtlich ohnehin nicht bindende UN-Migrations­pakt wurde von Österreich nicht mitgetrage­n.

Die vielleicht weitreiche­ndste Duftnote hat Kurz diese Woche gesetzt, indem er sich gegen eine Fortsetzun­g der EU-Marinemiss­ion Sophia gestellt hat. Die Schiffe sollten die Schlepperk­riminalitä­t überwachen, es wurden damit aber auch immer wieder in Seenot geratene Menschen gerettet. „Ticket nach Europa“nennt Kurz das. Für solche Aussagen halten ihn seine Kritiker mehr für einen Zyniker denn einen Realisten.

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Kanadas Premier Trudeau (li.) richtete Kurz in München aus, es komme weniger darauf an, dass Einwandere­r gut ausgebilde­t sind, als darauf, dass sie integriert werden.

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