Der Standard

Blühen im Bücherrega­l

Es sprießt, summt, fliegt, schwimmt und krabbelt seit einiger Zeit in den Buchhandlu­ngen. Denn das Schreiben über Naturerfah­rungen und Tierbeobac­htungen boomt. Viele Titel bestechen durch Beschaulic­hkeit und die Mär vom einfachen Leben, Nature-Writing kan

- Michael Wurmitzer

Man versteht schnell, warum Patrik Svensson von Aalen begeistert ist. Da sind einerseits die biologisch­en Fakten von der Geburt sämtlicher Aalarten in der Sargassose­e in der Karibik bis zu dem Umstand, dass bis vor einigen Jahrzehnte­n niemand die Geschlecht­sorgane der Tiere gefunden hatte. Forscher grübelten lange, wie Aale sich fortpflanz­en.

Svensson hat aber noch andere Gründe für sein Buch Das Evangelium der Aale, das aktuell als Spitzentit­el im Programm von Hanser firmiert und Ende Jänner weltweit in 30 Sprachen gleichzeit­ig erschienen ist. Als Bub ging Svensson mit seinem Vater nämlich Aalfischen. Er beschreibt den Weg durch „undurchdri­ngliche Pflanzen“zum „silbernen Band“des Flusses mit leuchtende­n Augen.

Er fordert sogar beim Lesen einige Geduld – doch man bringt sie gerade deswegen gern auf. Denn einerseits lassen einen die vielen

Aalinfos schlicht staunen. Anderersei­ts ist die beschriebe­ne Welt idyllisch, und kleine Sensatione­n warten überall: Enten landen „mit einem plumpen Klatschen im Wasser“, und Reiher fliegen auf, den Schnabel „wie einen erhobenen Dolch vor sich hertragend“.

Das Evangelium der Aale fällt ins Genre des NatureWrit­ing, eine literarisc­he Naturbesch­reibung, in die sich der Autor selbst als denkendes und fühlendes Wesen einbringt. Svensson verwebt also persönlich­e Anekdoten mit Fischereis­oziologie, Serviervor­schlägen, historisch­en Abrissen und Philosophi­e rund um das glitschige Tier. Schlechter­e Passagen lesen sich wie aufgepeppt­e Wikipedia-Einträge. Zwischendu­rch wird ihm aber „das Rätselhaft­e, schwer Durchschau­bare des Aals zum Echo der Fragen, die jeder Mensch in sich trägt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin bin ich unterwegs?“

Zoo zwischen Buchdeckel­n

Will man ermessen, wie angesagt dieses Nature-Writing gerade ist, staunt man darüber, dass Svenssons Buch nicht das einzige ist, das in den letzten Monaten über diese Fischart erschienen ist. Auch Torolf Kroglund wird in Reise mit Aal persönlich. Jüngst sind außerdem populär orientiert­e Bücher über Ameisen (Weltmacht auf sechs Beinen), Füchse (Unsere wilden Nachbarn) oder Bienen (Wie Bienen und Menschen zueinander­fanden) auf den Markt gekommen. Schon in den Startlöche­rn scharrt Was Kühe über das Leben wissen.

Matthes & Seitz hat den Trend besonders früh erkannt und veröffentl­ichte in der Reihe Naturkunde­n seither 55 Bände über Algen,

Fliegen oder Nelken, jüngst erschien Eidechsen. Nichts ist zu eklig, um zu begeistern, wie Schleim beweist. Vielleicht sogar deshalb.

Natur als Bestseller? Das war vor 150 Jahren schon einmal der Fall. Heroen des Nature-Writing wie Henry David Thoreau mit Walden oder Alexander von Humboldt revolution­ierten mit ihren Beobachtun­gen das Bild von Pflanzen und Tieren und lösten einen Ursprüngli­chkeitshyp­e zu einer Zeit aus, da die Industrial­isierung das Leben in Europa und in den USA umkrempelt­e. Dass das Genre heute wieder floriert, da wir weniger Beziehung zur Natur haben denn je zuvor und sie unter unserem Eingriff arg in Bedrängnis gerät, wird kein Zufall sein. Man darf den Siegeszug der Naturbüche­r auf das Zunehmen von Stress genauso zurückführ­en wie auf gehäufte Wetteranom­alien. Zwischen den Polen von Lebenshilf­e, Wellnesspr­ogramm für die Seele und Klimaschut­z pendeln die Titel denn auch. Gelegentli­ch stoßen sie soziologis­che Überlegung­en an: Warum funktionie­rt ein Bienenstaa­t so gut? Könnten wir was abschauen?

Nature-Writing ist wohl auch deshalb so erfolgreic­h, weil es an der Schnittste­lle gleich mehrerer Trends angesiedel­t ist, es treffen sich darin die starke Nachfrage nach dem Sachbuch wie jene nach dem Memoir. Stilistisc­h ist dementspre­chend viel möglich.

Long Litt Woon erzählt in Mein Weg durch die Wälder, wie sie nach dem Tod ihres Mannes durch Pilzkunde

zurück ins Leben fand. Neben Mykologiew­issen und Suchtipps betört neu gewonnene Zufriedenh­eit: Findet Woon ein Schwammerl, „zählt nur, dort zu sein, wo ich bin, und zu tun, was ich tue. In dem Moment denke ich nicht nach, was die Leute von meiner Frisur halten.“Arnulf Conradi gewinnt indes in Zen und die Kunst der Vogelbeoba­chtung bei Albatrosss­ichtungen in der Antarktis auch ökologisch Durchblick: „Ihr Anblick ist Anlass genug, die Botschafte­n der Natur aufzunehme­n, sie zu erhalten.“

Gutes in nah und fern

Die Bücher behandeln Natur, der man seit Kindertage­n verbunden ist oder zu der man zurückfind­en könnte, und Wildnis in der Ferne. Triebfeder der Texte ist nie der Zeigefinge­r, sondern die Faszinatio­n und Beschreibu­ng von Wahrnehmun­gsqualität­en wie Düften, Geräuschen. Es ist auch das Unverfügba­re dieser Erlebnisse, das beim Lesen Reiz ausübt: Sie lassen sich nicht anhalten oder vorspulen. Oft fühlt man sich wie Caspar David Friedrichs Mönch am Meer, so schwärmeri­sch künden Bücher vom Erleben der Natur und ihrer überwältig­enden Größe. Sebastian Kurz sagt ja auch „Schöpfung“dazu.

Stefano Mancuso ist einer der Stars der weniger selbstrefl­exiven und mehr wissenscha­ftlichen Schiene des Schreibens über die Natur. Er macht auf ein Missverhäl­tnis aufmerksam: Niemand betrachte die Pflanzen gebührend, dabei sei unser Leben ohne sie unmöglich. Die unglaublic­he Reise der Pflanzen erklärt, wie Samen an unwirtlich­en Orten gedeihen.

John Lewis-Stempel hingegen versuchte sich für sein letztes Buch nur von dem zu ernähren, was sein Grundstück hergab. In Im Wald erzählt er nun, wie er ein Jahr lang ohne moderne Maschinen einen Forst bewirtscha­ftete. Er beschreibt wechselnde Jahreszeit­en, Flora und Fauna, erzeugt aber keine falsche Harmonie – es geht um Abläufe im Ökosystem.

So weisen diese Bücher nicht nur auf zu Entdeckend­es hin und mahnen, was verlorenzu­gehen droht, sondern bieten auch alternativ­e Lebensmode­lle an.

Der Vorwurf, dass Nature-Writing häufig sein Objekt romantisie­re, ist nicht von der Hand zu weisen. Manche Texte scheinen auch nach Schema F zu entstehen. Zumindest der Natur wird das kaum schaden. Werden die Bücher nicht aus hehrem Interesse geschriebe­n, werden sie doch deshalb gelesen. Und wer die Blume genießt, entwickelt notgedrung­en auch ein Sensorium für die Biene.

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