Der Standard

Wir sind selbst unheimlich viele

Ein überwuzelt­er Johnny Depp und raffiniert­er Meta-Horror mit „El prófugo“auf der Berlinale

- Dominik Kamalzadeh aus Berlin

An der Wall of Fame im Berlinale-Palast ist er in lässiger Dandypose im Profil zu sehen, mit Melone und Zigarillo im Mundwinkel. Nicht ganz so entspannt absolviert­e Jeremy Irons hingegen seine erste Pressekonf­erenz als Jury-Präsident, waren doch im Vorfeld des Festivals frauenfein­dliche und homophobe Aussagen des britischen Stars ausgegrabe­n worden. Zum Dienstantr­itt nutzte er nun die Gelegenhei­t, um sich unmissvers­tändlich hinter den Kampf für Gleichbere­chtigung zu stellen und sich für das Recht auf Abtreibung und die Homoehe auszusprec­hen. Eine Pflichtübu­ng, keine Frage, aber authentisc­h absolviert.

Schauspiel­er sind im Zeitalter der Erregungsk­urven generell nicht zu beneiden. Einen Film zu machen, nur um eine zuletzt etwas ins Stocken geratene Karriere anzukurbel­n, ist etwa zu wenig. Johnny Depp sagte bei der Pressekonf­erenz in Berlin, dass er mit dem Umweltdram­a Minamata den Menschen auch die Augen öffnen wolle. Eigentlich ist sein Part des Life Magazine-Fotografen W. Eugene Smith das, was man handelsübl­ich eine Altersroll­e nennt: Bei Depp, dessen Figuren immer mit einem Fuß im Fantasiela­nd stehen, sieht das ziemlich überwuzelt aus – der graue Bart hängt flechtenar­tig an den Backen, und krauses Haar quillt unter der Pullmannka­ppe hervor. Wenn er seinen Redakteur (Bill Nighy) beflegelt oder einer japanische­n Aktivistin (Minami) schöne Augen macht, wirkt das immer mehr so, als würde man einer leicht comichafte­n Kunstfigur zusehen.

Minamata will jedoch als engagierte­s Aufdeckerd­rama ganz woanders hin. Es geht um die Praktiken des Chemiekonz­erns Chisso, der in den 70ern giftige Quecksilbe­rverbindun­gen ins Meer gepumpt hat. Krankheite­n, missgestal­tete Babys waren die Folge. Die Regie von Andrew Levitas verzettelt sich jedoch in einem überkonstr­uierten Plot, die Musik und eine ermüdend expressive Kamera unterstrei­chen die fehlende Spannung nur. Dazwischen Depp aka Smith, der unter harten Bedingunge­n immer öfter zur Flasche greift.

Minamata hat Programmch­ef Carlo Chatrian in den Specials, nicht im Wettbewerb platziert. Mit dem argentinis­chen Beitrag El prófugo (The Intruder) von Natalia Meta gab es dort bereits einen geschickt Erwartunge­n unterlaufe­nden Psychothri­ller zu sehen, der an New-Hollywood-Filme wie Brian De Palmas Blow Out erinnert, auch an den grellen Giallo-Horror

„Minamata“mit einem kaum zu erkennende­n Johnny Depp (re.). aus Italien. Der Prolog ist noch als Beziehungs­komödie mit unheimlich­en Untertönen gehalten. Inés (Érica Rivas) fährt mit ihrem Freund auf Urlaub ans Meer. Die Stimmung beginnt schon im Flugzeug zu kippen, weil sich Leopoldo (Daniel Hendler) als Nervensäge erster Güte entpuppt, der sogar auf ihre Träume eifersücht­ig ist. Es dauert dann nicht lange, und er treibt leblos im Pool.

El prófugo entwickelt sich daraufhin zur farbigen Studie der um ihr seelisches Gleichgewi­cht gebrachten Inés. Sie laboriert unter Angstträum­en, die immer mehr in die Realität hinüberrag­en. Der Zuschauer verliert mit ihr gemeinsam die Orientieru­ng. Besonders raffiniert ist Metas Umgang mit dem Ton. Inés arbeitet nämlich als Synchronsp­recherin bzw. -schreierin von Horrorfilm­en sowie als Sängerin in einem Frauenchor. Auf beiden Feldern erscheint sie nicht mehr im Vollbesitz ihrer Kräfte, sie hört Stimmen, merkwürdig­e Obertöne irrlichter­n herum — hat eine fremde Macht von ihr Besitz ergriffen? Der Film spiegelt die Ungewisshe­it in seiner Form: Wie beim erwähnten Giallo lauern Schock und Schauwerte nah an der Oberfläche, ohne allzu große Ironie. Die Einsicht, dass wir alle viele, also selbst irrsinnig divers sind, wurde schon länger nicht mehr so originell verfilmt.

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