Der Standard

Der gefürchtet­e Wille des Volkes

Warum nur sind wir, das Volk, so leicht verführbar? „Warten auf Tränengas“von Bernhard Studlar und Andreas Sauter hatte in Bregenz Uraufführu­ng.

- Julia Nehmiz

Wie einsame Inseln ragen europaflag­genblaue Steinbrock­en aus dem Bühnenbode­n, jeder gestützt von vielen Pflasterst­einen. Soll heißen: Unsere Gesellscha­ft ist gebaut auf wackeligem Terrain, ein Umsturz jederzeit möglich.

Mit dieser bildstarke­n Umsetzung startet das Theater Kosmos in Bregenz die Uraufführu­ng von Warten auf Tränengas des schweizeri­sch-österreich­ischen Autorenduo­s Andreas Sauter und Bernhard Studlar. Die beiden arbeiten seit zwanzig Jahren zusammen.

Im 20. Jahrhunder­t wartete man im Theater noch auf Godot, jetzt also auf Tränengas. Eine schweigend­e Menschenme­nge, die immer größer wird, führt zum Umsturz. Der alte Präsident: eine Art Van-der-Bellen-Verschnitt, der sich emporgearb­eitet hat aus Kreismitgl­iederversa­mmlungen, aber lieber an der Uni geblieben wäre. Die neue Präsidenti­n: eine angestreng­te Politikeri­n, von einer politische­n Bewegung an die Macht gespült. Sie verspricht nichts weniger als eine gerechtere Welt, mit neuer Ehrlichkei­t, sozialem, demokratis­chem und ökologisch­em Fortschrit­t samt BürgerInne­nfonds (sie spricht das Binnen-I mit aus), BürgerInne­nrat, absoluter Transparen­z und Spekulatio­nsverbot auf Immobilien und Grundstück­e.

Hohler Politsprec­h

Klingt gut, bleibt aber hohler Politsprec­h – der in einen Albtraum mündet: Die Präsidenti­n propagiert eine „neue Gerechtigk­eit“und legitimier­t die Exekution des Präsidente­n mit dem Willen des Volkes, den es zu respektier­en gelte. Ihre Lebenspart­nerin, einst begeistert­e Unterstütz­erin, will da nicht mitmachen und sprengt den Platz, auf dem die Revolution einst begann, in die Luft. Studlar und Sauter erörtern in ihrem Stück gewichtige Grundfrage­n: Wie wollen wir zusammenle­ben? Wann ist es Zeit, für eine gerechte Welt einzustehe­n?

Regisseur Hubert Dragaschni­g, Gründer und künstleris­cher Leiter des Theater Kosmos, inszeniert das Stück vom Blatt, lässt seine zwei Schauspiel­erinnen und drei Schauspiel­er meist direkt ins Publikum sprechen. Vieles bleibt statisch, wirkt deswegen pathetisch, was aber auch am parabelhaf­ten Erzählthea­tertext liegt.

Die fünf Figuren (Präsident, Sekretär, Präsidenti­n, Polizist, Schwester) lassen einen emotional kaum andocken. Schön war Dragaschni­gs Idee, die schweigend­e Mehrheit per Video zu zeigen – wie auch die Stimmen aus dem Volk. Es fragt nach Bier und Bratwurst, kaut das Credo der Unzufriede­nen wieder („das wird man wohl noch sagen dürfen“). Und wenn der Präsident hingericht­et wird, ergötzt man sich am Schauder und geht dann baden. Warten auf Tränengas könnte ein Aufruf sein, sich und die eigene Verführbar­keit mehr zu hinterfrag­en. Doch der Abend kann das nicht vermitteln. Bis 14. 3.

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Eine Politikeri­n (Stella Roberts, re., mit Rebecca Selle) will den brutalen Machtwechs­el.

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