Der Standard

Neue Serie: Reiseziele für Menschen mit Flugscham

Kleine Erinnerung an den Bremer Meister Carl Carls oder Der schwarz-weiße Faschingsr­ausch im Rahmen des Möglichen.

- Von ruf & ehn

Ja, auch Schachspie­ler kennen den Fasching. Zwar ist wenig bekannt über Umzüge, Maskeraden und Völlereien, Schachspie­ler tragen selten bunte Hüte und neigen nicht zum spontanen Schunkeln, doch im Rahmen ihrer Möglichkei­ten schlagen auch sie mitunter über die Stränge. Die Neigung zum Karneval offenbart sich zumeist am Schachbret­t selbst. Bizarre Eröffnunge­n werden dann gewählt, launige Varianten erprobt oder – dies eine Mal – Züge gespielt, die ansonsten als zweifelhaf­t gelten. Andere verändern spätabends, wenn die Trainer zu Bett gegangen sind, die Regeln: Man spielt Tandemoder Fress-Schach, bis es wieder fad wird und man reumütig zu den klassische­n Regeln zurückkehr­t.

Selten aber doch betrifft der Faschingsw­ille auch das Spielgerät und materialis­iert sich in Form eines Faschingss­cherzes. Beim Turnier in Bad Oeynhausen 1922 hatte der berühmte Meister Carl Carls (1880– 1958) gegen den Berliner Meister Willi Schlage zu spielen. Carls war bekannt dafür, dass er immer (und zwar immer) mit dem Doppelschr­itt des c-Bauern eröffnete, Carls war Bankdirekt­or in Bremen, und er hatte wenig Zeit für das Studium der Schachtheo­rie. Seinem Normalzug 1. c2-c4 ließ er dann im zweiten Zug stets g2-g3 folgen, wodurch die sogenannte Bremer Partie entstand, damals Terra incognita auf der Landkarte der Eröffnunge­n. Doch an diesem Tag verweigert­e ihm, als Carls ziehen wollte, der sonst so gefällige Bauer den Dienst: Ein Kollege hatte ihn festgekleb­t. Carls wusste zunächst nicht, wie ihm geschah, der ganze Turniersaa­l brach in homerische­s Gelächter aus, auch Carls lachte mit. Am Ende belegte er den zweiten Rang.

Zu seiner besten Zeit warCarls ein gefürchtet­er Positionss­pieler. Regelmäßig zermürbte er seine Gegner. Früh engagierte sich Carls auch für das damals umstritten­e Blindschac­h. 1902 organisier­te er in Hannover das berühmte Simultanma­tch des amerikanis­chen Großmeiste­rs

und Gedächtnis­akrobaten Harry Nelson Pillsbury (1872–1906), der ohne Ansicht von Brett und Figuren gegen 20 Gegner antrat – auch so eine Art schachlich­er Fasching, wie gesagt: im Rahmen der Möglichkei­ten. Das stille Fest dauerte über zwölf (!) Stunden, man fürchtete nicht ganz zu Unrecht um Pillsburys Gesundheit. Am Ende waren alle im Kaiser-Café in Hannover so erschöpft wie die Romanfigur­en nach einer rauschende­n Ballnacht bei Tolstoi.

Als man Siegbert Tarrasch, den großen, stets zu Urteilen aller Art bereiten Lehrer, zu Beginn des Turniers in Breslau 1912 fragte, was er denn von Carls Leidenscha­ft für 1.c4 hielte, antwortete er mit dem ihm eigenen Selbstbewu­sstsein: „Ein ganz dummer Zug!“Die Antwort gab ihm Carls in ihrer Partie:

Carls – Tarrasch

Breslau 1912

1.c4 e6 2.g3 d5 3.Lg2 d4 Dr. Tarrasch begegnet der ungewohnte­n Eröffnung mit einem zentralen Gegenaufba­u und zieht den Bauern ins feindliche Lager. Vorsichtig­er war 3… Sf6, 3… c5 oder gar 3… c6. 4.f4 Um die weitere Zentrumsbi­ldung mit e6-e5 zu verhindern. 4... c5 5.e4! Ein starker Zug, der auf der Fernwirkun­g des Lg2 basiert. 5... Sc6 Denn nach 5… dxe3 6.dxe3 Dxd1+ 7.Kxd1 hat Schwarz Entwicklun­gsprobleme mit dem Damenflüge­l. 6.Sf3 Le7 7.d3 Ld7 8.Sa3 a6 9.Ld2 Tb8 10.0–0 b5 Greift am Damenflüge­l an, ohne die Situation am Königsflüg­el zu klären. Besser war 10... h5. 11.b3 b4?! Schließt den Damenflüge­l und beraubt sich des Gegenspiel­s. Noch immer war 11... h5 vorzuziehe­n. 12.Sc2 Ld6 Zum letzten Mal sollte Schwarz 12... h5 versuchen. 13.Sce1! Bündelt die Kräfte am Königsflüg­el, anstatt sich mit 13.a3 a5 zu begnügen. 13... Sge7 14.De2 Jetzt hängt e4e5 in der Luft. 14... 0–0 15.e5 Lc7 16.Sg5 h6 Notwendig, da Dh5 drohte. 17.Se4 Lb6 18.Sf3 Kh8 19.Sh4! Dunkle Wolken ziehen am Königsflüg­el auf. Ohne etwas zu überstürze­n, konzentrie­rt Carls alle seine Figuren auf den gegnerisch­en König. 19… 20.Sxf5 exf5 21.Sd6 g6 Deckt f5 und verhindert vor allem Dh5. 22.Ld5 Le8? Umsichtige­r war 22... De7, obwohl Schwarz auch dann mit dem Rücken zur Wand steht. Weiß kann mit a2-a3 das Spiel öffnen oder mit 23.Tae1 nebst g3-g4 weiter Druck am Königsflüg­el ausüben. 23.g4! Der entscheide­nde Vorstoß! 23… fxg4? Öffnet den weißen Figuren Tür und Tor. Doch auch nach 23... Lc7 24.Sxe8 Dxe8 25.gxf5 oder 23… f6 24.gxf5 gxf5 25.Dg2 verliert Schwarz. 24.f5 Jetzt spielt der Ld2 wieder mit. 24… g5 Versucht die Stellung geschlosse­n zu halten. 25.Tae1 Noch ein Vorbereitu­ngszug. Es ging auch schon 25.f6 Dd7 26.Lxg5! hxg5 27.Lxc6 nebst Dxg4. 25... f6 26.Lxc6 Lxc6 27.Dxg4 fxe5? Tarrasch bricht unter dem Dauerdruck zusammen. Viel zäher war 27... Dd7 28.Dh5 Dh7 29.Te6.

28.Txe5 Tf6 Der Springer ist ungenießba­r: 28... Dxd6 29. Te6 nebst Txh6+. 29.Lxg5! Der Zerstörer! 29... Dxd6 Denn nach 29... hxg5 30.Dh5+ Kg7 31.Dxg5+ Kf8 (31… Kh7 32.Tf4) 32.Te6 ist alles aus. 30.Lxf6+ Dxf6 31.Te6 Dxe6 Eine letzte verzweifel­te Falle, 32.fxe6 Tg8 33.Dxg8+!, die glänzend widerlegt wird. 33... Kxg8 34.e7 1–0, denn Schwarz verliert noch einen Läufer.

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Foto: Archiv ehn Festgekleb­ter Bauer: Bankdirekt­or, Schachmeis­ter und Scherzopfe­r Carl Carls.
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Sf5
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