Der Standard

„Wir haben bei der Rechtsstaa­tlichkeit eine Krise“

Wenn die Unabhängig­keit der Gerichte in einem EU-Land gefährdet ist, dann ist das ein Problem für die gesamte Union, sagt Justizkomm­issar Didier Reynders.

- INTERVIEW: Gerald Schubert Foto: AFP/Marin

Bei mehreren Herausford­erungen, denen sich die neue EU-Kommission stellen muss, laufen die Fäden im Büro des Justizkomm­issars zusammen. Sorge um die Rechtsstaa­tlichkeit in Polen und Ungarn gehört ebenso dazu wie Konsumente­nschutz im Zeitalter der Digitalisi­erung.

STANDARD: Das Thema Rechtsstaa­tlichkeit ist derzeit in aller Munde. Warum ist das so? Reynders: Wir haben auf dem Gebiet eine Krise. Innerhalb weniger Jahre gab es in einigen Mitgliedss­taaten Entwicklun­gen, bei denen die Unabhängig­keit der Justiz, der Kampf gegen Korruption oder das Bekenntnis zum Medienplur­alismus zu wenig Beachtung fanden. Die Situation in Polen etwa bereitet mir mehr und mehr Sorgen. Wir müssen zeigen, dass das kein nationales Problem ist, sondern ein europäisch­es. Und dass ein Richter in einem EU-Land immer auch ein europäisch­er Richter ist.

STANDARD: Es gibt Pläne, die Auszahlung von EU-Geldern an die

Einhaltung rechtliche­r Standards zu knüpfen. Wie soll das gehen? Reynders: Es gibt einen Vorschlag der Europäisch­en Kommission, der besagt: Es muss möglich sein, Zahlungen zu stoppen, wenn in einem Mitgliedss­taat die Prinzipien der Rechtsstaa­tlichkeit grob verletzt werden. Die Frage ist, mit welcher Art von Mehrheit man das im Einzelfall beschließe­n kann. Die Kommission ist für eine umgekehrte qualifizie­rte Mehrheit. Das heißt, dass ein entspreche­nder Vorschlag nur dann abgelehnt werden kann, wenn eine qualifizie­rte Mehrheit der Mitgliedss­taaten dagegen ist.

STANDARD: Warum reichen aber normale Verfahren am Europäisch­en Gerichtsho­f nicht aus? Reynders: Wir müssen zusätzlich­e Instrument­e schaffen, insbesonde­re einen neuen Rechtsstaa­tsmechanis­mus. Die Kommission wird einen jährlichen Bericht über Rechtsstaa­tlichkeit in allen Mitgliedsl­ändern erstellen, nach klar definierte­n Regeln. Das ist erstens eine Antwort auf den Vorwurf, dass mit zweierlei Maß gemessen werde, dass man etwa immer nur Polen und Ungarn ins Visier nehme. Der zweite Grund ist, dass wir im Bereich der Rechtsstaa­tlichkeit eine neue Diskussion­skultur brauchen. Wir müssen den Bürgerinne­n und Bürgern erklären, dass unabhängig­e Gerichte und der Kampf gegen Korruption für sie von zentraler Bedeutung sind.

STANDARD: Was verspreche­n Sie sich von der Europäisch­en Staatsanwa­ltschaft, die derzeit aufgebaut wird?

Reynders: Ein wichtiger Punkt ist der Kampf gegen den Missbrauch von EU-Geldern. Die designiert­e Chefin Laura Kövesi wird Ermittlung­en auf europäisch­er Ebene organisier­en können. Dass Polen und Ungarn die Teilnahme verweigert haben, hat übrigens die Diskussion über die Junktimier­ung von Rechtsstaa­tlichkeit und EU-Geldern überhaupt erst ausgelöst. Vor allem Nettozahle­r wie Österreich klagen ja häufig über Betrügerei­en mit Geld aus dem gemeinsame­n EU-Budget.

STANDARD: Nicht nur Polen und Ungarn verweigern die Teilnahme. Auch Schweden macht nicht mit. Reynders: In Schweden und einigen anderen Ländern kann man eine traditione­ll zögerliche Haltung zu manchen Themen beobachten – etwa auch bezüglich des Beitritts zur Währungsun­ion. Was die Europäisch­e Staatsanwa­ltschaft betrifft, so gibt es in Schweden derzeit aber den Versuch, die Gesetzgebu­ng zu ändern und doch beizutrete­n.

STANDARD: Sie sind auch für Konsumente­nschutz zuständig. Spielt hier die fortschrei­tende Digitalisi­erung mit hinein?

Reynders: Nehmen wir das Problem der künstliche­n Intelligen­z: Wenn ein selbstfahr­endes Auto in einen Unfall verwickelt wird – schützt sein Algorithmu­s dann die Menschen im Auto oder die Menschen draußen? Und wenn es keinen Fahrer gibt, wer ist dann verantwort­lich? Der Autobesitz­er? Der Hersteller? Der Programmie­rer des Algorithmu­s? Diesen Fragen müssen wir uns stellen. Letztlich geht es immer um Vertrauen: Ohne Vertrauen zwischen den Mitgliedss­taaten gibt es keine Union. Ohne Vertrauen zwischen Bürgern und Verwaltung können wir die Gesellscha­ft nicht organisier­en. Und wenn es zwischen Konsumente­n und Produzente­n kein Vertrauen gibt, dann ist das ein Problem für beide.

DIDIER REYNDERS (61) war Finanz- und Außenminis­ter Belgiens. In der neuen EUKommissi­on ist er verantwort­lich für Justiz und Rechtsstaa­tlichkeit.

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