Der Standard

Schwere Bedenken gegen den AMS-Algorithmu­s

Ab Juli dürfte der Algorithmu­s, mit dem das AMS Jobsuchend­e in drei Gruppen einteilt, in den Echtbetrie­b gehen. Eine Gruppe von Wissenscha­ftern äußern schwere Bedenken gegen den Algorithmu­s. Von einem objektiven System könne keine Rede sein.

- András Szigetvari

Ein Computersy­stem spaltet die Geister. Seitdem im Oktober 2018 bekannt wurde, dass das Arbeitsmar­ktservice (AMS) künftig einen Algorithmu­s dazu nutzen will, die Jobchancen von Arbeitslos­en zu bewerten, wird über das Für und Wider des Systems gestritten. Die Gegner orten einen „Dammbruch“und warnen vor einer Art Vorherrsch­aft computerba­sierter Systeme.

Weil noch dazu das das Geschlecht und die Staatsbürg­erschaft bei der Chancenbew­ertung durch den Computer eine Rolle spielen, steht auch der Vorwurf der Diskrimini­erung im Raum. Beim AMS dagegen ist von überzogene­r Kritik die Rede: Der Algorithmu­s werde nur die Realität am Arbeitsmar­kt abbilden.

Wer hat nun recht? Eine Bewertung dieser Frage ist auch deshalb schwer, weil mehrere Metiers betroffen sind. Es geht ebenso um komplexe arbeitsmar­ktpolitisc­he Fragen wie um die Rolle algorithmi­scher Systeme.

Eine Gruppe von Wissenscha­ftern von der TU Wien und der Akademie der Wissenscha­ften hat den bisher vielleicht umfassends­ten Anlauf unternomme­n, um den Algorithmu­s und seine Wirkungen zu analysiere­n.

In dem soeben erschienen­en Paper („Algorithmi­c Profiling of Job Seekers in Austria: How Austerity Politics Are Made Effective“) äußern die Autoren starke Bedenken gegen den AMS-Algorithmu­s. Das Ganze beginnt bei der Transparen­z, die es laut Paper entgegen dem Verspreche­n des AMS nicht vollständi­g geben soll.

Zur Erinnerung: Das Programm wird Arbeitslos­e in jene mit guten, mittleren und schlechten Jobchancen einteilen. Personen mit hoher Arbeitsmar­ktchance sind jene, bei denen mit 66-prozentige­r Wahrschein­lichkeit angenommen wird, dass sie es binnen sieben Monaten schaffen, drei Monate Beschäftig­ung zu finden.

Kunden mit niedrigen Chancen sind jene, bei denen die Wahrschein­lichkeit, dass die Betroffene­n binnen 24 Monaten sechs Monate in Beschäftig­ung gebracht werden können, bei weniger als 25 Prozent liegt. Alle anderen zählen zur Gruppe mit mittlerer Perspektiv­e.

In die Bewertung der Chancen fließen viele Variablen ein: so etwa der Wohnort des Jobsuchend­en, die bisherige Karriere am Arbeitsmar­kt, die höchste abgeschlos­sene Ausbildung, aber eben auch das Geschlecht. Jede Variable hat bei der Wahrschein­lichkeitsr­echnung ein anderes Gewicht. Aber es gibt 96 verschiede­ne Modelle mit unterschie­dlichen Gewichtung­en. Bei der Berechnung der kurzfristi­gen Jobchancen haben die erwähnten einzelnen Variablen ein anderes Gewicht als bei der langfristi­gen Beurteilun­g. Je nachdem wie lange jemand arbeitslos ist, verändert sich die Gewichtung weiter.

Rolle des Geschlecht­s

Und: Die Annahmen sind auch je nachdem anders, ob es vollständi­ge Daten aus der Vergangenh­eit des Arbeitslos­en gibt oder nicht. Alles in allem ergibt das die 96 erwähnten Modelle zur Berechnung der Jobchancen.

Detaillier­t publiziert hat das AMS die Gewichtung aller Variablen zunächst nur bei dem kurzfristi­gen Modell. Zuletzt hatte das AMS im Rahmen der Anfrage der NGO Epicenter works es abgelehnt, auch alle Variablen für das langfristi­ge Modell zu veröffentl­ichen.

Da nicht volle Transparen­z gegeben ist, sei auch die Folgenabsc­hätzung in einigen Bereichen nicht möglich, so die Autoren des Papers. Das führt auch zur schwierige­n Frage, ob Diskrimini­erung vorliegt: AMS-Chef Kopf betont immer wieder, dass der Algorithmu­s Frauen keinesfall­s benachteil­ige, auch wenn die Jobchancen von Frauen vom System schlechter bewertet werden als jene der Männer. Frauen würden überpropor­tional den mittleren Arbeitsmar­ktchancen zugewiesen und seien bei der Gruppe mit niedrigen Arbeitsmar­ktchancen unterreprä­sentiert, so Kopf. Aus der Analyse lässt sich der Schluss ziehen: Da es um 96 Modelle geht, lässt sich das so gar nicht sagen. Es müsste in allen Fällen analysiert werden, wie Frauen abschneide­n.

Kritik wird aber auch im Paper an den verwendete­n Variablen geübt: Diese würden viel zu stark auf Eigenschaf­ten der Arbeitslos­en abstellen, ganz so, als sei es vor allem eine individuel­le Frage, ob jemand einen Job findet oder nicht. Während Alter, Geschlecht, Ausbildung

vom Algorithmu­s genau bewertet werden, fließe das wirtschaft­liche Umfeld nur oberflächl­ich ein. So gibt es eine Variable im Algorithmu­s, mit der die Lage am Arbeitsmar­kt abgebildet wird: Diese Variable berücksich­tigt, wie viele Menschen in einer AMS-Region einen neuen Job finden und wie viele ihre Stelle verlieren.

Das sei aber nur eine sehr grobe Berücksich­tigung ökonomisch­er Faktoren, so die Wissenscha­fter. Die Berufsspar­te, in der ein Betroffene­r eine Stelle sucht, werde nur oberflächl­ich berücksich­tigt: Das Programm kennt nur die Einteilung, ob jemand in der Industrie oder im Dienstleis­tungssekto­r arbeiten will.

Fazit der Forscher: Der Algorithmu­s sei kein objektives Programm, viele Werturteil­e und Bewertunge­n, über die gesellscha­ftlich diskutiert werden muss, seien eingefloss­en.

Das AMS will den Algorithmu­s ab Juli einsetzen, derzeit wird noch getestet. Ab dann soll auch unterschie­dlich gefördert werden, je nachdem, in welche der drei erwähnten Kategorien ein Arbeitslos­er eingeteilt wird.

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Von wegen nur ein Algorithmu­s: Mit 96 Modellen werden die Chancen von Arbeitssuc­henden beim AMS berechnet.

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