Der Standard

ZITAT DES TAGES

Ist die 35-Stunden-Woche für die Pflegebran­che ein Jobkiller? ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian bezeichnet die Warnungen der Wirtschaft als „Lavendel“und fordert von der Regierung eine härtere Gangart gegen Amazon.

- Gerald John

„Wer da herumg’scheitelt und das bezweifelt, soll einfach einmal zwei Stunden lang Demenzkran­ke betreuen.“ ÖGB-Chef Wolfgang Katzian über die Kritik an der Forderung nach einer Arbeitszei­tverkürzun­g für Pflegeberu­fe

Es sind turbulente Tage für Arbeitnehm­ervertrete­r: In der Pflegebran­che streiken Bedienstet­e für eine 35-StundenWoc­he, eine Razzia bei Subunterne­hmen von Amazon deutet auf massives Lohndumpin­g hin. Der Gewerkscha­ft gehen also die Gründe für Protest nicht aus, obwohl ihr mit der FPÖ der Erzfeind in der Regierung abhandenge­kommen ist. ÖGB-Boss Wolfgang Katzian nützt den Farbenwech­sel in der Koalition dazu, eine Gesprächsb­asis mit den neuen Entscheidu­ngsträgern aufzubauen – und legt dabei gleich eine Reihe an Forderunge­n auf den Tisch.

STANDARD: Wirtschaft­skammerChe­f Harald Mahrer nennt eine Arbeitszei­tverkürzun­g, wie sie die Gewerkscha­ften für die Pflegebran­che fordern, eine „Jobvernich­tungsmasch­ine“. Sägen Sie am Ast, auf dem die Arbeitnehm­er sitzen? Katzian: Ich verstehe schon, warum im Wirtschaft­skammerwah­lkampf dieser Lavendel erzählt wird, aber natürlich entbehrt das Argument jeder Grundlage. In den letzten 100 Jahren wurde die Arbeitszei­t mehrfach verkürzt von einst 70 auf heute 38,5 Stunden in vielen Branchen, der große Zusammenbr­uch aber hat nie stattgefun­den. Für die Sozialbran­che ist die Forderung umso berechtigt­er, als dass die Beschäftig­ten unter extremer körperlich­er und psychische­r Belastung stehen. Dass dort jetzt schon so viele Teilzeit arbeiten, zeigt ja, dass der Beruf ganztägig kaum zu schaffen ist. Wer da herumg’scheitelt und das bezweifelt, soll einfach einmal zwei Stunden lang Demenzkran­ke betreuen.

STANDARD: Für Teilzeitbe­schäftigte würde die 35-Stunden-Woche ein Lohnplus von bis zu 8,6 Prozent bedeuten. Wie sollen sich die Arbeitgebe­r, die mehrheitli­ch nicht gewinnorie­ntiert, sondern gemeinnütz­ig sind, das leisten können? Katzian: Diese Frage müssten die Geldgeber beantworte­n, das sind die Länder, die ihre Pflegeleis­tungen bei den Sozialunte­rnehmen zukaufen. Es kann nicht sein, dass die öffentlich­e Hand nicht mehr Geld ausgeben will, obwohl der Bedarf an Pflege massiv steigt. Das wäre so, als will ich mir vom Installate­ur das Badezimmer neu machen lassen, aber sage: Mehr als 1500 Euro zahle ich nicht.

STANDARD: Sollten die Demos dann nicht eher vor den Sitzen der Landesregi­erungen stattfinde­n? Katzian: Wir haben immer wieder auch mit den Ländern geredet, wurden aber nur im Kreis geschickt. Deshalb reicht’s den Belegschaf­ten jetzt, deshalb der Arbeitskam­pf – und unsere Verhandlun­gspartner sind nun einmal die Arbeitgebe­r. Außerdem sehen die Organisati­onen ja selbst: Sie suchen händeringe­nd nach Personal, finden zu diesen Bedingunge­n aber niemanden.

STANDARD: Wirtschaft­svertreter fürchten, dass dann, wenn Ihr Arbeitskam­pf Erfolg hat, die 35Stunden-Woche auch in anderen Branchen gefordert wird ... Katzian: ... weshalb auch massiver Druck auf die Arbeitgebe­r in der Sozialwirt­schaft ausgeübt wird.

STANDARD: Stimmt diese Vermutung denn nicht?

Katzian: Natürlich ist eine Arbeitszei­tverkürzun­g unser Ziel, und nach 45 Jahren bedarf es da wieder eines gesetzlich­en Schrittes. Alle Verkürzung­en waren in der

Vergangenh­eit wirtschaft­lich gut verkraftba­r, weil die Produktivi­tät massiv gestiegen ist.

STANDARD: Die Produktivi­tät steige aber nicht in dem Ausmaß, um die höheren Lohnkosten zu kompensier­en, sagt Martin Kocher, Chef des Instituts für Höhere Studien. Österreich werde deshalb an Wettbewerb­sfähigkeit verlieren. Katzian: Wir fordern ja nicht, die 35-Stunden-Woche – rums! – von heute auf morgen einzuführe­n. Arbeitszei­tverkürzun­gen sind stets in Etappen erfolgt, mit langen Vorlaufzei­ten. Über all das kann man reden.

Standard: Könnte die 35-Stunden-Woche in Branchen mit knappen Margen wie dem Handel nicht Jobs killen und die Digitalisi­erung vorantreib­en?

Katzian: Davor wurde schon bei der Einführung der 45-StundenWoc­he gewarnt, doch die Welt ist nie zusammenge­brochen. Aber ich sage auch: Fahren wir nicht mit dem Rasenmäher drüber, sondern schaffen wir Spielräume in den Kollektivv­erträgen. Und im Prozess der Digitalisi­erung sind wir mittendrin, auch ohne Arbeitszei­tverkürzun­g.

Standard: Sie haben Anfang der Woche erstmals Arbeitsmin­isterin Christine Aschbacher von der ÖVP getroffen. Ich nehme an, Sie hatten den einen oder anderen Wunsch. Katzian: So ist es. Wir fordern eine härtere Gangart gegen Amazon. Das Unternehme­n wickelt die Logistik über eine Kette von Subfirmen ab, an deren Ende Zusteller unter fürchterli­chen Bedingunge­n arbeiten – bei der Razzia kam etwa raus, dass manche als geringfügi­g Beschäftig­te angestellt sind, aber 60 Stunden die Woche im Dienst sind. Amazon gibt sich nun ganz entsetzt, aber natürlich nützt das Unternehme­n seine Marktmacht

voll aus und sorgt mit Preisdruck erst für diese Zustände.

Standard: Wie soll die türkis-grüne Koalition da eingreifen? Katzian: Die Regierung könnte einiges tun: Die Auftraggeb­erhaftung, wie es sie in der Baubranche gibt, muss aufs Transportw­esen ausgeweite­t werden – dann könnten Unternehme­n wie Amazon verantwort­lich gemacht werden. Die Regierung sollte per Verordnung auch die Leiharbeit begrenzen und die Kontrollor­gane aufstocken – schärfere Kontrollen allein reichen nicht. Aber Amazon ist nur ein Schauplatz eines größeren Phänomens.

Standard: Inwiefern?

Katzian: 1,3 Millionen Beschäftig­te arbeiten Teilzeit oder in atypischen Dienstverh­ältnissen. Ich habe Arbeitsmin­isterin Aschbacher vorgeschla­gen, dass sie einen Gipfel einberuft, um Verbesseru­ngen für diese Menschen zu diskutiere­n. Da geht es um die ganze Bandbreite: von der finanziell­en Absicherun­g von Teilzeitbe­schäftigte­n im Alter über die Eindämmung moderner Formen der Ausbeutung bis zu rechtliche­n Verbesseru­ngen für prekär Beschäftig­te. So gibt es etwa keinen vollständi­gen Mutterschu­tz für freie Dienstnehm­erinnen: Anders als normale Arbeitnehm­erinnen dürfen sie auch im Zeitraum von acht Monaten vor und zwölf Monaten nach der Geburt zu schweren körperlich­en Arbeiten herangezog­en oder Giftstoffe­n – etwa ätzendem Putzmittel – ausgesetzt werden. Ebenso wenig gilt das Nachtarbei­tsund Überstunde­nverbot. Das kann nicht so bleiben.

Standard: An Türkis-Blau ließen Sie kaum ein gutes Haar. Hat der Wechsel von FPÖ zu Grün aus Ihrer Sicht etwas verbessert?

Katzian: Was mich freut: Im Regierungs­programm kommen elfmal die Sozialpart­ner vor – das war unter Türkis-Blau nicht der Fall. Das kann allerdings von ernsthafte­r Einbindung bis zu „Wir erzählen euch ein G’schichtl“vieles heißen. Für ein Urteil ist es deshalb noch zu früh.

STANDARD: Nehmen Sie an der SPÖ-Mitglieder­befragung teil, bei der Parteichef­in Pamela RendiWagne­r die Vertrauens­frage stellt? Katzian: Natürlich! Aber was ich antworte, verrate ich nicht.

WOLFGANG KATZIAN (63), SPÖ, führt seit Juni 2018 den Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbund (ÖGB) an.

 ??  ?? An einer Arbeitszei­tverkürzun­g für die Pflegekräf­te führe kein Weg vorbei, sagt ÖGB-Chef Katzian: „Wer da herumg’scheitelt und das bezweifelt, soll einmal zwei Stunden Demenzkran­ke betreuen.“
An einer Arbeitszei­tverkürzun­g für die Pflegekräf­te führe kein Weg vorbei, sagt ÖGB-Chef Katzian: „Wer da herumg’scheitelt und das bezweifelt, soll einmal zwei Stunden Demenzkran­ke betreuen.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria