Der Standard

„Wo analoge Lösungen effiziente­r sind als digitale“

Der Top-Materialwi­ssenschaft­er Peter Fratzl erforscht Biomateria­lien. Über Informatio­nsverarbei­tung in der Natur, Wechselwir­kungen zwischen Natur- und Geisteswis­senschafte­n und das Recyclingp­roblem.

- INTERVIEW: Julia Sica

Er gehört zu den meistzitie­rten Materialwi­ssenschaft­ern der Welt und damit zu den Topforsche­rn auf seinem Gebiet: Peter Fratzl, gebürtiger Wiener, ist Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloidund Grenzfläch­enforschun­g in Potsdam, wo er an der Schnittste­lle von Biound Materialwi­ssenschaft­en forscht. Fratzl gliedert sein Department aus Biologen, Physikern und Ingenieurw­issenschaf­tern in drei Bereiche: Es geht um die Erforschun­g von Materialie­n für medizinisc­he Implantate („für die Natur“), Materialie­n aus nachwachse­nden Rohstoffen („von der Natur“) und bioinspiri­erten Strukturen („durch die Natur“).

Standard: Sie arbeiten in Ihrer Abteilung „Biomateria­lien“ohnehin stark interdiszi­plinär. An den aktuellen Projekten sind außerdem Design- und Geisteswis­senschafte­n beteiligt. Wie kommt das?

Fratzl: In einem Exzellenzc­luster mit der Humboldt-Universitä­t und Kunsthochs­chulen wollen wir unter Beteiligun­g vieler Diszipline­n das Analoge im Zeitalter des Digitalen beleuchten und verstärken. Das Internet braucht jetzt schon einen großen Teil unseres Strombedar­fs – Tendenz steigend, weil immer mehr Geräte damit verbunden werden. Wenn wir alles nur mehr über Rechner steuern, dauert das viel zu lange. Wir brauchen lokale Informatio­nsverarbei­tung direkt in intelligen­ten Materialie­n und analoge mechanisch­e Lösungen dort, wo sie viel effiziente­r sind als digitale.

Können

Sie

ein

Beispiel

Standard: nennen?

Fratzl: Ein historisch­es Beispiel ist der Keilriemen, der die Drehrichtu­ng eines Rads auf ein anderes überträgt. Da brauche ich keinen Sensor, der die Drehrichtu­ng misst, die Informatio­n an einen Rechner schickt, der Signale an das zweite Rad und dessen Motor sendet. Wir überlegen im Projekt: Wie viel Informatio­n kann ich ins Material packen, ohne dass es digitale Datenverar­beitung braucht?

Standard: Wo kommen die Biomateria­lien ins Spiel?

Fratzl: Wir kennen viele Beispiele aus der Natur, bei denen massiv Informatio­n in der Konstrukti­on von Material steckt. Am MPI wurde etwa die australisc­he Pflanzenga­ttung der Banksien erforscht. Viele ihrer Arten bilden Samenkapse­ln, die jahrzehnte­lang regungslos sind und erst durch die große Hitze eines Buschfeuer­s einen Riss bilden, der beim nächsten Regen Wasser einlässt. Die Kapsel kann aufquellen, wodurch der Samen herausfäll­t. Dieses komplexe Verhalten geschieht ohne das Zutun einer lebenden Zelle, gebaut von einer Pflanze, die nicht einmal ein Nervensyst­em hat! Wenn bestimmte Bedingunge­n eintreten, verhält sich das Material richtig. Die Informatio­n dafür ist in die Struktur eingeschri­eben. Das begeistert einen Ingenieur.

Standard: Wie sieht die interdiszi­plinäre Kooperatio­n aus?

Fratzl: Meine Erfahrung hat gezeigt, dass es schon nicht einfach ist, mit Medizinern zusammenzu­arbeiten – aber das ist nichts im Vergleich zur Arbeit mit Geisteswis­senschafte­rn. Die Arbeitswei­se ist irre unterschie­dlich. In dem Projekt geht es aber nicht nur darum, zu dokumentie­ren, wie etwas war oder ist, und daraus Schlüsse zu ziehen. Es geht außerdem um die Herangehen­sweise und Zukunft von Forschung, auch der naturwisse­nschaftlic­hen, die durch die Wechselwir­kung mit den Geisteswis­senschafte­n verändert werden kann. Wir kommen dadurch zu ganz neuen Forschungs­fragen, die meine Abteilung vorher nicht auf dem Schirm hatte.

Welche Fragestell­ungen sind

Standard: das?

Fratzl: Etwa: Wie könnten wir besser recyceln? Unser Hauptprobl­em dabei ist das Trennen verschiede­ner Materialie­n. Das gibt es bei Biomateria­lien in der Natur nicht, weil fast alles aus Zuckern, Proteinen und Mineralien besteht. Beispiele wären Zellulose, Wolle und Knochen. Diese Stoffe müssen nicht getrennt werden und können einfach abgebaut werden. Schwierige­r ist der Abbau eines Smartphone­s, das gleichzeit­ig Kunststoff­e, Schwermeta­lle und seltene Erden enthält. Wenn das kaputtgeht, ist es giftiger Sondermüll.

Standard: Wie ließe sich das Problem materialwi­ssenschaft­lich anders angehen? Fratzl: Wir können versuchen, diese hohe Komplexitä­t der chemischen Zusammense­tzung zu reduzieren und stattdesse­n mehr Komplexitä­t auf Struktureb­ene schaffen. Denken Sie an die Schalldämm­ung: Dafür kann ich Kunststoff verwenden, aber auch andere Materialie­n entspreche­nd porös gestalten und so die Schallausb­reitung verringern. Das wird nicht alle Probleme lösen, bietet aber spannende Projekte, die sich aus dieser Zusammenar­beit ergeben. Viele interessan­te Lösungen kann man nicht direkt umsetzen, sondern muss sie verstehen und daraus neue Prinzipien entwickeln. Das passiert nicht von heute auf morgen. Aber heute und in Zukunft ist mehr denn je die Frage wichtig: Wie können wir in einer Mangelsitu­ation, in der wir nicht alle Rohstoffe unbegrenzt zur Verfügung haben, trotzdem genauso gut leben wie bisher?

PETER FRATZL, 1958 in Wien geboren, ist Diplominge­nieur und Physiker. Er war Professor an der Uni Wien, der Universitä­t München und der Montanuniv­ersität Leoben sowie Direktor des Erich-SchmidInst­ituts für Materialwi­ssenschaft der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften. Hinzu kommen mehrere Ehrendokto­rate und Honorarpro­fessuren. Seit 2003 zählt er zu den Direktoren des Potsdamer Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzfläch­enforschun­g. 2010 erhielt er mit dem LeibnizPre­is der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft (DFG) den wichtigste­n deutschen Wissenscha­ftspreis. Er bleibt aber auch Österreich verbunden: Er ist u. a. Mitglied der ÖAW und kooperiert zur Erforschun­g von Knochenerk­rankungen mit dem LudwigBolt­zmann-Institut für Osteologie.

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