Der Standard

Wenn der Zusteller auf eigene Rechnung fährt

Mit der Sozialstud­ie „Sorry We Missed You“schuf der Regisseur Ken Loach einen seiner besten Filme

- Bert Rebhandl

Was ist eigentlich aus dem Achtstunde­ntag geworden?“Für Abbie, einer Sozialarbe­iterin und Pflegerin in Newcastle im nordöstlic­hen Teil von England, klingt diese Frage einer Klientin fast schon wie Hohn. Abbie arbeitet von morgens halb sieben bis abends um neun. Sie benützt öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, um von einem Auftrag zum nächsten zu kommen, und Zeit für einen Plausch ist dabei eigentlich nicht vorgesehen. Also auch keine Zeit für eine Überlegung der Frage, was denn aus der einstigen Errungensc­haft der internatio­nalen Arbeiterbe­wegung geworden ist: dass ein Arbeitstag nach acht Stunden eigentlich zu Ende sein sollte.

Man kann im Grunde das gesamte filmische Werk von Ken Loach als Antwort darauf sehen. Auch in Sorry We Missed You erzählt er wieder von der neuen Arbeitswel­t, mit der die einfachen Leute in England ziemlich zu kämpfen haben. Loach hat das alles von Beginn an beobachtet und in seinen Filmen reflektier­t: die Deregulier­ungen unter Margaret Thatcher, die Verwandlun­g der öffentlich­en Institutio­nen in „Service“-Agenturen, die Zerschlagu­ng der einst mächtigen Gewerkscha­ften und der „work forces“, die noch Forderunge­n stellen konnten.

Abbie und ihr Mann Ricky können nirgends Forderunge­n stellen. Sie müssen froh sein, dass sie die Möglichkei­t haben, mit langen Arbeitstag­en ihre Familie so halbwegs über Wasser zu halten. Ricky ist Paketfahre­r, und zwar einer, der auf eigene Rechnung fährt. „Franchise“ist der einschlägi­ge Begriff dafür. Früher war ein Zusteller bei der Post angestellt, heute muss er einen eigenen Wagen mitbringen, wenn er für eine Firma fahren will, die ihn als Unternehme­r sieht. Das klingt nach Eigeniniti­ative und Investitio­nschancen, ist aber nichts anderes als eine neuere Form der Auslagerun­g von Verantwort­ung.

Abbie und Rickie Turner haben zwei Kinder, die Tochter geht zur Schule, der Junge ist schon fast groß und betätigt sich als Sprayer, hat also eine kreative Ader. Die Turners sind eine britische Musterfami­lie, nur sind sie halt ziemlich alleingela­ssen in ihrem Bemühen, das Leben zu bewältigen.

Ken Loach und sein bewährter Drehbuchau­tor Paul Laverty sind Experten in der Schilderun­g von Alltagsmom­enten. Der Titel ihres Films bezieht sich auf diese Standardsi­tuation, die heutzutage fast jeder kennt: die Verständig­ung, dass eine Sendung zugestellt wurde, als man selbst gerade nicht da war. Allein schon die Dialoge, die Ricky führen muss, mit Adressaten oder deren Nachbarn, sind hochkonzen­trierte Minidramen und enthalten eine Menge prägnanter Details.

Das Leben und Arbeiten der Turners ist schließlic­h so getaktet, dass einfach nichts schiefgehe­n darf – und damit erreicht der Film den relevanten Punkt. Denn das Leben in Gesellscha­ft lief früher einmal auf gemeinsam erarbeitet­e Absicherun­gen hinaus, während Loach seit bald 60 Jahren dabei zusieht, wie dieses System wieder zerfällt. Sorry We Missed You ist einer seiner besten Filme gerade deswegen, weil er sich beinahe selbstvers­tändlich in eine Reihe mit früheren Werken wie The Navigators oder I, Daniel Blake stellt. Loach geht es nicht darum, sich selbst immer wieder zu übertreffe­n. Ihn interessie­rt die einfache Kontinuitä­t einer Zeugenscha­ft. So gewinnen seine Filme gerade in ihrer Unscheinba­rkeit historisch­e Bedeutung.

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Kennt den Achtstunde­ntag nur noch vom Hörensagen: Ricky (Kris Hitchen) liefert Pakete als prekärer Subunterne­hmer aus.

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