Der Standard

Mammutproj­ekt Öffiticket

In der Sozialwirt­schaft wird wieder gestreikt. Die Lohnverhan­dlungen verlaufen in diesem Jahr besonders zäh. Haben die Sozialpart­ner Handlungsf­ähigkeit eingebüßt und damit gar ausgedient?

- Regina Bruckner

Verkehrsmi­nisterin Leonore Gewesslers Herzenspro­jekt, ein Jahrestick­et für alle Öffis, ist eine Mammutaufg­abe.

Rar sind sie, aber es gibt sie doch: Streiks in Österreich. Derzeit kommt es rund um die verfahrene­n Lohnverhan­dlungen in der Sozialwirt­schaft (SÖW) nachgerade zu einer Häufung: Was die Streiktage betrifft, ist Österreich vor den Schweizern europaweit Schlusslic­ht. Aktuell geht es um einen speziellen Fall: Die Beschäftig­ten in der Sozialbran­che gehen für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgle­ich auf die Barrikaden. Wirtschaft­skammerche­f Harald Mahrer malte in der ORF-Pressestun­de den Teufel an die Wand. Die Forderung der Gewerkscha­ft könne man nur als Vorstoß Richtung Arbeitszei­tverkürzun­g verstehen. „Wir werden in Österreich mit einer generellen Arbeitszei­tverkürzun­g das Licht abdrehen. Dann können wir uns alle weiße Leintücher umhängen und geordnet zum wirtschaft­spolitisch­en Friedhof marschiere­n.“

Wifo-Chef Christoph Badelt geht dennoch davon aus, dass das Ansinnen in der Pflegebran­che früher oder später von Erfolg gekrönt sein wird, „weil es dringend geboten ist, die Arbeitssit­uation zu verbessern“. Man wird sehen. Interessan­t ist der Konflikt aber auch in anderer Hinsicht. Ganz grundsätzl­ich stellt sich erneut die Frage: Wie gut funktionie­rt die Sozialpart­nerschaft? Ist die aktuelle Auseinande­rsetzung nach der Schwächung der Arbeitnehm­ervertretu­ng in der Sozialvers­icherung und deren Ausbooten rund um die Arbeitszei­tflexibili­sierung unter Türkis-Blau etwa schon der Vorbote für den nächsten sozialpart­nerschaftl­ichen Konflikt? Und das unter Regierungs­beteiligun­g der Grünen?

Alte Wunden

Sicher ist, die Wunden sind nicht verheilt. „Die Entmachtun­g der Arbeitnehm­er in ihrer eigenen Sozialvers­icherung wurde von den Sozialpart­nern nicht einmal diskutiert, sondern von Türkis-Blau dekretiert. Auch mit dem Zwölfstund­entag hat die alte Regierung klargemach­t, dass sie von sozialpart­nerschaftl­ichen Kompromiss­en wenig hält“, sagt Barbara Blaha, SPÖ-Abtrünnige und als Gründerin des Momentum-Instituts gefragte politische Nichtpolit­ikerin.

Allzu gut erinnert man sich an die heftige Debatte über den Zwölfstund­entag, der gegen den Willen der Grünen und Roten eingeführt wurde. Was die Flexibilis­ierung dem Standort Österreich gebracht hat, könne man wissenscha­ftlich seriös nicht sagen, so IHS-Chef Martin Kocher. Es gäbe dazu keine entspreche­nden Daten. Man sei auf die Theorie angewiesen: „Mehr Arbeitszei­tflexibili­tät muss per Definition zu größerer Profitabil­ität und höherer Wettbewerb­sfähigkeit führen, weil Unternehme­n Nachfrages­pitzen besser ausgleiche­n können.“

Die Sache ist aber ohnehin gegessen: Türkis-Blau ist Geschichte und im Regierungs­programm gibt es keine Anzeichen, dass an der Regelung gerüttelt wird. In welcher Tonart geht es nun weiter? Emmerich Tálos, emeritiert­er Professor für Politikwis­senschaft an der Uni Wien und ausgewiese­ner Sozialpart­nerschafts­experte, sieht Signale, dass die neue Regierung anders zu verfahren gedenkt. Was TürkisGrün von Schwarz-Blau unterschei­de, sei, dass sie explizit die Einbindung der Sozialpart­ner an einigen Stellen des Regierungs­programms anspreche: rund um die Themen Niedrigloh­nanpassung an den KVMindestl­ohn, Zukunft der Arbeit, Einführung eines Bildungs- und eines Zeitwertko­ntos. Auch bei anderen scheinen die Sozialpart­ner nicht abgeschrie­ben zu sein. Die Präsidenti­n des ÖVP-Seniorenbu­ndes, Ingrid Korosec, schlägt vor, dass sich die Sozialpart­ner mit der Abflachung von Gehaltskur­ven beschäftig­en, Bildungsmi­nister Heinz Faßmann (ÖVP) verweist rund um die Lehre mit Matura bei der Frage nach dem Rechtsansp­ruch auf die Absolvieru­ng von Kursen in der Arbeitszei­t auf die Sozialpart­ner. Wiens Bürgermeis­ter Michael Ludwig (SPÖ) trat jüngst mit der Wirtschaft­s

und Arbeiterka­mmer, der Industriel­lenvereini­gung, dem ÖGB und der Landwirtsc­haftskamme­r vor die Presse, um ihren „Digitalisi­erungspakt“vorzustell­en.

Sozialpart­nerschaft wie sie leibt und lebt. Ist sie also zurück – wie in besseren Tagen? Jein, sagt Tálos. Auch wenn der Angriff auf das Kammernsys­tem auf die Blauen zurückgehe, „Kurz und Co haben die Schwächung voll mitgetrage­n“. Jetzt müsse sich in der Praxis erweisen, ob Türkis-Grün andere Akzente setzen und gerade die Grünen ein Revival der Sozialpart­nerschaft fördern. Auf der Hand liegt das für Tálos nicht. Die Grünen seien nicht unbedingt in den Verbänden verankert. Außerdem hätten sie sich in Vorregieru­ngszeiten gegen die Entmachtun­g der Arbeitnehm­ervertretu­ng in der Sozialvers­icherung ausgesproc­hen, gekommen sei sie doch. Sie waren gegen die Einführung des Zwölfstund­entags. Angetastet wird er nicht.

Den Vorwurf, dass die Sozialpart­ner gerade in dieser Frage eben nichts weitergebr­acht hätten, lässt Barbara Blaha nicht gelten. Die Sozialpart­nerschaft sei „eben keine technokrat­ische Lösungsmas­chine, die auf Zuruf Lösungen ausspuckt. Es ist durchaus möglich, dass man in manchen Punkten nicht zu einem Ergebnis kommt, das für beide Seiten Vorteile hat“. Manchmal dauere es eben auch Jahre, um in heiklen Fragen auf einen grünen Zweig zu kommen, ergänzt Tálos.

Aber haben nicht die Neos recht, wenn sie angesichts der üppigen Ausgaben der Wirtschaft­skammer für den Opernball wieder einmal die Abschaffun­g der Pflichtmit­gliedschaf­t fordern? Tálos hält dagegen: Am meisten leiden würden darunter die Arbeitnehm­ervertrete­r. Für die Wirtschaft­svertreter würde der Geldstrom kaum versiegen. Dafür würden potente Unternehme­n oder die Industrie schon sorgen. Im Interesse der Wirtschaft könne das nicht sein, denn das Modell der Sozialpart­ner habe sich bewährt, so Tálos.

Bewährtes Modell

Und was sagt einer, der die Sache mittlerwei­le mit gesundem Abstand sieht? Ausgedient habe die Sozialpart­nerschaft nicht, urteilt der Ökonom Christian Keuschnigg, Chef des Wirtschaft­spolitisch­en Zentrums in Wien. Gerade in Zeiten wie diesen, da es schwierige Anpassunge­n durch Automatisi­erung oder Digitalisi­erung zu bewältigen gelte, sei es wichtig, dass die Gruppen mit unterschie­dlichen Interessen ein gemeinsame­s Forum hätten und ein „runder Tisch“institutio­nalisiert sei. „Schließlic­h gelingen ja auch die Lohnverhan­dlungen als Kernfrage der künftigen Wirtschaft­sentwicklu­ng ohne direkte Beteiligun­g der Regierung. Das hat doch trotz aller Spannungen in Österreich im Unterschie­d zu anderen Ländern insgesamt gut funktionie­rt.“

Für Tálos hängt die Frage, ob die Sozialpart­nerschaft wieder zu einem wichtigen politische­n Gestaltung­sfaktor werde, davon ab, ob die Regierung bereit sei, die Interessen­organisati­onen der Unternehme­r und Arbeitnehm­er paritätisc­h in politische Entscheidu­ngsprozess­e einzubinde­n. Voraussetz­ung: Die ÖVP müsste sich ändern.

IHS-Chef Martin Kocher findet, dass es noch genug zu tun gibt – vor allem in puncto Flexibilit­ät am Arbeitsmar­kt: „Das wird bei zunehmende­m Wandel mehr und mehr ein Problem.“Entscheide­nd sei aber, dass die Flexibilit­ät auf beiden Seiten des Arbeitsmar­kts erhöht werden müsste – Arbeitnehm­er müssten zum Teil flexibler bei der Arbeitszei­t werden, Arbeitgebe­r bei der Gewährung von Weiterbild­ung, Sabbatical­s, Telework. Der Abtausch, der im Interesse beider Seiten sein müsste, so Kocher, sei bisher nur unzureiche­nd im Rahmen von Kollektivv­ertragsver­handlungen erfolgt. „Diese wären der richtige Ort dafür.“Kommentar der anderen Seite 31

Kommentar Seite 32

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