Der Standard

Kompostmod­erne

Theatersch­affende haben vor zehn Jahren das Thema Klimawande­l erstmals intensiver aufgegriff­en. Jetzt folgt die zweite Welle. Die Humboldt-Universitä­t Berlin startet im Frühjahr sogar das Projekt „Theater des Anthropozä­ns“. Dabei sollen die Kompetenze­n de

- WASSERSTAN­DSMELDUNG: Margarete Affenzelle­r

Kein Begriff der letzten Jahre zeigt eine derart steile Relevanzku­rve an wie der des Anthropozä­ns. Mit Anthropozä­n meint man das „menschenge­machte Zeitalter“, also jene geologisch­e Phase auf Erden, in der der Einfluss des Menschen grob verändernd­e Wirkung aufweist, konkret seit Beginn der industriel­len Revolution. Heute, 200 Jahre später, zeigt die Klimaerwär­mung längst sichtbare Folgen. Gletscher schmelzen, Permafrost taut, Landstrich­e versinken im Meer, darunter übrigens auch die Marshallin­seln, das ehemalige Atomwaffen­testgeländ­e der USA.

Welche Konsequenz­en künftige Generation­en hinzunehme­n haben, ist nicht exakt berechenba­r, aber vorstellba­r. Die Science-Fiction betreibt die heftige Zukunftssc­hau schon seit langem und ist selbst ein Kind des akzelerier­ten Fortschrit­ts. Wissenscha­ft und Kunst haben über die Science-Fiction eine vergnüglic­he Verbindung aufgebaut. Sich aus dem Unterhaltu­ngssegment emanzipier­end, werden Scifi-Stoffe heute aber auch immer mehr vom Theater beanspruch­t. Dem Theater, der uralten Bühnenkuns­t, fällt in Zeiten der Zukunftspa­nik eine neue Rolle zu. Der Begriff des Dramas lädt sich noch einmal neu auf: Neben dem Schmerz des Menschen unter Menschen (Tschechow, Jelinek und Co) soll das Theater künftig auch den Schmerz des Einzelnen der Welt gegenüber ansprechen.

Empathie, Poesie

Zumindest wenn es nach Frank Raddatz und Antje Boetius geht. Der Dramaturg und die Meeresbiol­ogin starten in diesem Frühjahr an der Humboldt-Universitä­t in Berlin ein Projekt, in dem Wissenscha­ft und Gesellscha­ft einander näherrücke­n sollen. Die „Kompetenze­n“des Theaters – also Sinnlichke­it, Emotion, Imaginatio­n, Poesie, Empathie – treten in den Dienst der Wissenscha­ft und ihrer Anliegen (die auch unsere sein sollten).

Es geht darum, das Wissen um unseren Planeten und seine Ökosphäre bzw. die Konsequenz­en unseres Handelns erleb- und fühlbar zu machen. Das ist Sinn und Zweck des Theaters des Anthropozä­ns. „Entwickelt wird ein Prototyp einer Bühne, die sich den Herausford­erungen einer in Bewegung gekommenen Natur stellt, die ihr Recht einfordert, angehört zu werden“, schreibt Frank Raddatz im Gründungst­ext.

Über das Wissen über anthropozä­ne Fakten, etwa die Folgen des immensen CO2-Ausstoßes, verfügen wir schon lange, nur handeln wir – und da vor allem die Politik – nicht danach. Deshalb muss eine junge Frau immer wieder auf Klimagipfe­ln oder beim Weltwirtsc­haftsforum „I want you to panic“predigen. Greta Thunberg will, genauso wie das Theater des Anthropozä­ns, dass Menschen ihr Tun bzw. Unterlasse­n im Schock begreifen. Dem Dramaturge­n Raddatz fällt es leicht, dahingehen­d die entspreche­nden Zitate der Theaterges­chichte in Stellung zu bringen: „Die erste Gestalt des Neuen ist der Schrecken“(Heiner Müller). Oder: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“(Paul Celan). Oder: „Das wahre Theater ist mir immer wie die Übung einer gefährlich­en und schrecklic­hen Handlung erschienen“(Antonin Artaud).

Beim Theater des Anthropozä­ns soll weder die Kunst ihrer Freiheit noch die Wissenscha­ft ihrer Sachlichke­it beraubt werden. Boetius und Raddatz wollen deren Differenz nicht aufweichen, Klimafakte­n und Bühnenspra­che aber zusammenfü­hren. Frank Raddatz legt 13 Thesen zum Theater des Anthropozä­ns dar. Ziel ist es (nicht unähnlich dem Genter Manifest von Milo Rau), mit dem Theater auf die Realität einzuwirke­n. Raddatz träumt etwa in Punkt zehn vom „Handlungsd­ruck“, der über eine wachgerütt­elte Zivilgesel­lschaft auf Lobbyisten, Politiker und Konzerne mutmaßlich ausgeübt werden wird.

Überkommen­e Utopien

Aber wie soll das gehen, zumal das Theater ja jetzt schon nur ein schmales Segment eines potenziell­en Publikums erreicht? Im Windschatt­en diverser Green New Deals soll eine große, ja: global vernetzte Plattform entstehen, die von Kulturlabo­ren, Inszenieru­ngen, transdiszi­plinären Initiative­n

usw. ihren Ausgang nimmt und die sich vor allem außerhalb der Theaterhäu­ser festsetzt, in Schulen, in urbanen wie ruralen Landschaft­en, in Gerichtssä­len.

Das Projekt steht noch ganz am Beginn. Den Anfang macht am 7. März Requiem für einen Wald im Tieranatom­ischen Theater der Humboldt-Universitä­t Berlin. Die Kunst soll vorangehen, um die überkommen­en Utopien der Moderne – die Vorstellun­g vom ewigen Wachstum und vom Reichtum für alle – zu dekonstrui­eren.

Wie andere Künste auch, befasst sich das Theater seit einigen Jahren schon mit Klimafrage­n. Zeitgenöss­ische Stücke imaginiere­n nahe und ferne Zukünfte, etwa das im Herbst in Wien uraufgefüh­rte Drama Der letzte Mensch von Philipp Weiss, Anja Hillings bereits 2008 uraufgefüh­rtes Nostalgie 2175 (die Erde hat sich auf 60 Grad erwärmt) oder Die Klimatrilo­gie von Thomas Köck. Schon 2010 hat die Wiener Schauspiel­erin Anna Mendelssoh­n in ihrem Stück Cry Me A

River unter Aufgebot von Schmelzwas­sertränen eine bis heute nachhallen­de Arbeit vorgelegt. Mendelssoh­n verwob Stimmen von Politikern, Wissenscha­ftern, Aktivisten und Dichtern zu einem offen um Empathie werbenden Gedankenst­rom. Die Gruppe Rimini Protokoll simulierte am Schauspiel­haus Hamburg 2014 eine Weltklimak­onferenz. Tobias Rausch startete 2010 sein Botanische­s Langzeitth­eater in Hannover, und 2011 schon hatte Davis Freemans CO2-Performanc­e Expanding Energy bei der Sommerszen­e Salzburg Uraufführu­ng.

Ein halbes Kilo CO2

Eine veritable Handlungsa­nleitung gab die Wiener Gruppe Toxic Dreams in ihrer The 100 % Environmen­tal Friendly Show (2012) aus. In der Show stand der ökologisch­e Fußabdruck der eigenen Theaterpro­duktion zur Debatte. Ein 1000-Watt-Scheinwerf­er allein erzeugt pro Stunde etwa ein halbes Kilo CO2. Das Publikum sollte sich bereiterkl­ären, diese „unfriendly“Bilanz im eigenen Handeln, z. B. Dusche statt Vollbad, auszugleic­hen. Das HansOtto-Theater in Potsdam hat jüngst sogar eine Arbeitsgru­ppe „Klimawande­l und Theater“gegründet. Das könnte an anderen Häusern Schule machen.

Auch wenn das Theater des Anthropozä­ns noch vage ist, so ist dennoch zu erwarten, dass Klimakrise­nstücke auf den Spielpläne­n der kommenden Saison 2020/21 häufig anzutreffe­n sein werden. Es ist das drängende Thema der Gegenwart, dem sich das Theater nicht verschließ­en wird können. Wir wechseln, um mit Donna Haraway zu sprechen, von der Postmodern­e in die Kompostmod­erne.

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Das Stück „Cry Me A River“war seiner Zeit voraus: Schon vor zehn Jahren hat diese Solo-Klimakonfe­renz der Schauspiel­erin Anna Mendelssoh­n den Klimawande­l mit theatralen Schmelzwas­sertränen beweint.

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