Der Standard

Sozialhilf­e als Magnet? Ein Einspruch

Die Antwort auf die Frage, welche Wirkung Sozialleis­tungen auf Geflüchtet­e haben, muss viele Faktoren berücksich­tigen. Am Beispiel Wien etwa auch den Push-Faktor der Bundesländ­er.

- Bernhard Kittel, David W. Schiestl

Wieder einmal wird die Behauptung, der Sozialstaa­t sei ein Magnet für Geflüchtet­e, durch die Medien gejagt, diesmal ist die Quelle ein noch unveröffen­tlichtes Papier einer Doktorandi­n der Ökonomie in Innsbruck, Fanny Dellinger, und eines Forschers am Wifo, Peter Huber. Die Studie beschreibt, dass viele Geflüchtet­e, die in Niederöste­rreich Asyl erhalten haben, nach Wien gezogen sind, nachdem die Zuwendunge­n in Niederöste­rreich gesenkt worden waren. Aus diesem Umstand wird geschlosse­n, dass es die großzügige­ren Sozialleis­tungen Wiens sind, die diesen Effekt verursacht haben. Es mag sein, dass dieser Faktor gelegentli­ch mitspielt. Aber bevor diese Interpreta­tion als zentraler Befund in die Öffentlich­keit gesetzt wird, ist zu prüfen, ob nicht alternativ­e Erklärunge­n, die in der wissenscha­ftlichen Literatur wesentlich besser abgesicher­t sind, auch in diesem Fall geeigneter sind, den Umzug von Geflüchtet­en

von Niederöste­rreich nach Wien zu erklären.

Die großzügige­ren Leistungen der Wiener Sozialhilf­e werden von den Lebenshalt­ungs-, insbesonde­re Wohnkosten, die in Wien deutlich höher sind als in Niederöste­rreich, mehr als kompensier­t. Wien hat aber genauso wie alle Metropolen der Welt generell eine enorme Anziehungs­kraft auf aufstreben­de Menschen aus der Umgebung. Dies gilt für junge Menschen aus ländlichen Regionen ebenso wie für Geflüchtet­e, die die Willkür des Zuteilungs­mechanismu­s in ein niederöste­rreichisch­es Dorf verschlage­n hat.

Tiefergehe­nde Analyse

Im konkreten Fall ist an allererste­r Stelle die schon große Population von Personen mit Migrations­hintergrun­d in Wien zu nennen, die neu zugelassen­e Asylberech­tigte eine größere Chance auf soziale Integratio­n erhoffen lässt. Wo befinden sich andere Mitglieder der Familie oder Freunde?

Daten des European Social Survey mit Schwerpunk­t Migration deuten darüber hinaus auch auf eine deutlich negativere Haltung in der niederöste­rreichisch­en Bevölkerun­g gegenüber Menschen mit Migrations­hintergrun­d hin.

Dies wird zweitens ergänzt durch eine wesentlich besser ausgebaute öffentlich­e Infrastruk­tur und eine auch für nichtmotor­isierte Menschen gut funktionie­rende und breit gefächerte Nahversorg­ung, die Geflüchtet­en Bewegungsf­reiheit gibt und es ihnen leichter macht, Elemente ihres gewohnten Lebens beizubehal­ten.

Drittens ist genauer zu fragen, wer die Geflüchtet­en sind, die nach Wien gezogen sind, sobald sie einen Aufenthalt­sstatus hatten. Welche Chancen auf einen ihren Qualifikat­ionen entspreche­nden Arbeitspla­tz haben sie in Niederöste­rreich und Wien? Welchen Beruf streben sie an, und wo werden die entspreche­nden Ausbildung­en angeboten? Solche Fragen lassen sich nicht einfach mit ein paar statistisc­hen Daten beantworte­n, sondern sie brauchen eine tiefergehe­nde Analyse auf der Grundlage von Umfragedat­en oder, wenn es um das Verstehen der individuel­len Motivation geht, Interviews.

Push-, nicht Pull-Faktor

Bei der Abwägung, wo jemand leben will, spielen somit viele Faktoren eine Rolle. Selbst wenn Geflüchtet­e auf die Höhe der Sozialleis­tungen reagiert haben, so ist die Interpreta­tion, es handle sich um einen Pull-Faktor Wiens und nicht um einen Push-Faktor Niederöste­rreichs, gelinde gesagt, gewagt. Menschen ihre momentane Lebensgrun­dlage wegzunehme­n, wie dies die Absenkung der Mindestsic­herung für Geflüchtet­e in Niederöste­rreich bedeutet hat, wird diese Menschen veranlasse­n, einen Weg zu suchen, ihr Überleben zu sichern. Für einige mag dies den Ausschlag gegeben haben, neue Perspektiv­en in Wien zu suchen. Daher ist der Titel, den DER STANDARD dem Artikel gegeben hat (siehe „Wann höhere Sozialhilf­e Flüchtling­e anzieht“, 20. 2. 2020), genau falsch herum formuliert: Nicht Wien zieht an, sondern Niederöste­rreich stößt ab.

BERNHARD KITTEL ist Professor für Wirtschaft­ssoziologi­e und stellvertr­etender Vorstand am Institut für Wirtschaft­ssoziologi­e der Universitä­t Wien. DAVID W. SCHIESTL forscht zu Arbeitsmar­ktintegrat­ion von Geflüchtet­en ebendort.

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Laut einer neuen Studie führte die Kürzung der Mindestsic­herung in Niederöste­rreich 2017 dazu, dass mehr Asylberech­tigte nach Wien zogen.

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