Der Standard

Vida auf das falsche Pferd

Warum die 35-Stunden-Woche in der Pflege keine gute Idee ist

- Thomas Strickner

Mit einer Arbeitszei­tverkürzun­g in nur einem Bereich, nämlich der Sozialwirt­schaft Österreich (SWÖ), macht man den Pflegeberu­f nicht als Ganzes attraktive­r. Die Gewerkscha­ft darf den zuletzt stark vernachläs­sigten Bereich gerne weiter pflegen. Mittel und Wege sollte sie allerdings überdenken.

Die Kollektivv­ertragsver­handlungen der SWÖ wurden schon sechs Mal abgebroche­n. Weil die Gewerkscha­fter von Vida und GPA-djp auf ihrer Forderung beharren, aus den im Kollektivv­ertrag üblichen 38 Stunden künftig 35 machen zu wollen. In vier Jahresschr­itten hätte sich – so das Angebot der Arbeitnehm­ervertretu­ng – die Arbeitszei­t reduzieren sollen, stufenweis­e um je 1,5 Stunden in jedem zweiten Jahr, von zwei Quasinulll­ohnrunden begleitet, in denen das Entgelt nur um den Verbrauche­rpreisinde­x erhöht werden soll.

Eine Forderung, die auf den ersten Blick Honig auf dem Brot der Pflegenden verspricht und erst auf den zweiten verdeutlic­ht, dass mit der Arbeitszei­tverkürzun­g selbst das Brot darunter zu zerbröseln droht. Zumal sie für den, der in Teilzeit arbeitet, zwar mehr Geld bedeutet, sich dieses Mehr aber dank Nulllohnru­nde(n) schnell wieder relativier­t – und damit auch der volle Lohnausgle­ich. Was bliebe, wäre der Umstand, dass jene Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r, die eine Vollzeitbe­schäftigun­g zum Leben brauchen, SWÖ-Einrichtun­gen mit 35 Wochenstun­den finanziell weit weniger anziehend finden. Eine Arbeitszei­tverkürzun­g würde also nur jene Betriebe personell entlasten, die rechtlich nicht an den SWÖ-Kollektivv­ertrag gebunden sind. Auf Beschäftig­te der Sozialwirt­schaft würde der Druck hingegen steigen.

Tabuzone für Vollzeitar­beit

Womit rechtferti­gt man den Arbeitskam­pf? Das oft zitierte Argument, 38 Stunden seien in einem physisch und psychisch fordernden Job nicht mehr zumutbar, ist keines, zumal sich der/die Pflegende schon seit Jahren aussuchen kann, welcher Teilbereic­h in welchem Umfang am besten zu seiner/ihrer Work-Life-Balance passt. Rund die Hälfte der in der Langzeitpf­lege Beschäftig­ten arbeitet bereits heute in Teilzeit.

Stülpt man die 35-StundenWoc­he also wie geplant isoliert über die SWÖ, wird er zur Tabuzone für Vollzeitar­beitskräft­e. Drückt man die 35-StundenWoc­he für alle durch, was im Rahmen dieser Verhandlun­g gar nicht möglich wäre, stürzt man den Pflegebere­ich – frei nach dem Motto: gestern noch Personalma­ngel, heute bereits Notstand – quasi über Nacht in die Krise. Zumal ein Unternehme­n mit 100 Vollzeitbe­schäftigte­n acht zusätzlich­e Pflegefach­kräfte anstellen müsste, um den laufenden Betrieb aufrechtzu­erhalten – bei einem Arbeitslos­enmarkt, den es schlicht und ergreifend nicht gibt. Was automatisc­h zur Folge hätte, dass der Druck auf alle weiter steigt. Auf Pflegende ebenso wie auf die zu Pflegenden.

Wenn es der Gewerkscha­ft also ein Anliegen ist, sich nach gefühlten Jahren des Liebesentz­ugs nun endlich der Pflege anzunehmen, bieten sich ihr von einer (noch) besseren Bezahlung – warum fordert man nicht ein Plus von vier Prozent oder mehr? – bis hin zur Ausfinanzi­erung der Leistungen, die letztlich den Rahmen des Machbaren vorgibt, ausreichen­d Möglichkei­ten, die offensicht­lich neu aufgeflamm­te Zuneigung unter Beweis zu stellen. Dass der Pflegebere­ich schnell und vor allem gut gepflegt werden muss, ist angesichts der demografis­chen Entwicklun­g und der damit einhergehe­nden Prognosen klar. Wenn sich Vida und GPA-djp für die Arbeitszei­tverkürzun­g als Mittel der Wahl entscheide­n, setzen sie aber auf das falsche Pferd.

THOMAS STRICKNER ist Bereichsle­iter Mobile Dienste bei der Innsbrucke­r Soziale Dienste GmbH und Obmann der ARGE Mobile Pflege Tirol.

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