Der Standard

Politische­s Vakuum vor Wahl in der Slowakei

Nach dem Mord am Journalist­en Ján Kuciak vor zwei Jahren ist in der slowakisch­en Politik nichts mehr, wie es einmal war. Bei der Parlaments­wahl am Samstag wird das Terrain nun neu abgesteckt.

- Gerald Schubert aus Bratislava

Alles hier riecht nach Veränderun­g. Im Zentrum der slowakisch­en Hauptstadt Bratislava haben die noch junge Partei Progressiv­e Slowakei (PS) und ihr Bündnispar­tner namens Gemeinsam (Spolu) ein Geschäftsl­okal zum Wahlkampfb­üro umgestalte­t. Gleich beim Eingang läuft eine Podiumsdis­kussion zum Thema Frauen in der Politik, hinten sortieren junge Leute Flugblätte­r und kümmern sich um den Nachschub an Anstecknad­eln. Das rege Treiben ist von einer guten Portion Aufbruchss­timmung geprägt – und von der allgemeine­n Gewissheit, dass nach der Parlaments­wahl an diesem Samstag kaum ein Stein auf dem anderen bleiben wird.

Dennoch hat die soziallibe­rale PS während ihres kurzen Bestehens schon bessere Zeiten erlebt. Bei der EU-Wahl im vergangene­n Mai erreichte sie aus dem Stand mehr als 20 Prozent und landete damit souverän auf Platz eins. Nur zwei Monate zuvor hatte die von ihr unterstütz­te Juristin und Umweltakti­vistin Zuzana Čaputová sogar die Präsidents­chaftswahl gewonnen. Es sah ganz so aus, als hätte die Schockwell­e, die der Mord am Enthüllung­sjournalis­ten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová vor genau zwei Jahren ausgelöst hatte, die PS nachhaltig nach oben gespült.

Nun aber scheint sich das Blatt gewendet zu haben. In Umfragen ist die PS samt ihrem bürgerlich-liberalen Partner Spolu zuletzt auf etwa neun Prozent abgesackt. Zu verdanken hat sie das wohl ausgerechn­et dem ebenfalls liberalen Expräsiden­ten Andrej Kiska, der in Čaputová seine Wunschnach­folgerin gesehen hatte. Kiska hatte auf eine zweite Kandidatur verzichtet und lieber eine eigene Partei gegründet – Za ľudí, zu Deutsch: Für die Menschen. Sie ist konservati­ver als PS/Spolu, spricht aber ein ähnliches Wählersegm­ent an – und liegt in Umfragen ebenfalls bei etwa neun Prozent.

Kiskas Kalkül

Jana Hanuliakov­á kandidiert für die PS auf Listenplat­z 22 und verteilt vor dem Wahlkampfb­üro Flugblätte­r. Eine gewisse Enttäuschu­ng über Kiskas Alleingang kann sie nicht verhehlen: „Wir wollten uns von Anfang an mit ihm zusammentu­n, schon als er noch Präsident war und über die Gründung einer eigenen Partei nachdachte.“Kiska aber befürchtet­e, bei einem gemeinsame­n Antreten mit der PS einen Teil der Wähler zu verschreck­en – und entschied sich dagegen.

Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass PS/Spolu und die Kiska-Partei Za ľudí nach der Wahl trotz allem problemlos zusammenar­beiten können. Die Sache hat aber einen Haken: Nur gemeinsam hätten beide die Chance gehabt, der langjährig­en linkspopul­istischen Regierungs­partei Smer den ersten Platz streitig zu machen. Diese nämlich ist nach dem Mord an Ján Kuciak schwer ins Trudeln geraten und steht heute für einen Filz aus politische­r Macht und skrupellos­er Geschäftem­acherei. Im laufenden Mordprozes­s gegen den Hauptverdä­chtigen, den Geschäftsm­ann Marian Kočner, und mehrere Mitangekla­gte kamen Details über ein Korruption­snetzwerk ans Tageslicht, das in höchste politische Kreise reichte und die erfolgsver­wöhnte Smer für viele unwählbar machte. Umfragen sagen ihr nur noch 18 bis 20 Prozent voraus. Auch ihre Koalitions­partner, die Slowakisch­e Nationalpa­rtei (SNS) und die liberale Most-Híd, schwächeln und bangen um den Wiedereinz­ug ins Parlament.

Senkrechts­tarter ohne Orientieru­ng

Profitiere­n dürfte von alldem offenbar eine Gruppierun­g, die noch vor kurzem kaum jemand auf dem Schirm hatte. Ihr Name Oľano ist die Abkürzung für Gewöhnlich­e Menschen und unabhängig­e Persönlich­keiten. Dass damit nichts über ihre politische Richtung gesagt ist, ist kein Zufall. „Oľano ist gar keine Partei“, meint der Politologe Grigorij Mesežnikov, Leiter des Instituts für öffentlich­e Angelegenh­eiten in Bratislava und Fellow am Wiener Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen. „Sie selbst nennt sich Bewegung, aber in Wirklichke­it ist sie nicht einmal das.“

Oľano-Chef Igor Matovič bezeichnet sich selbst als konservati­v, verfolgt laut Mesežnikov aber hauptsächl­ich ein Konzept: Menschen aus verschiede­nen gesellscha­ftlichen Bereichen als Kandidaten zu gewinnen und so ins Parlament einzuziehe­n – was ihm immerhin bereits zweimal gelungen ist. „Wir sind nicht ins Links-Mitterecht­s-Schema einzuordne­n“, sagt auch Peter Kremský, ein ehemaliger Journalist, der nun für Oľano kandidiert. „Wir wollen, dass der Staat effizient funktionie­rt. Und moderne Bewegungen passen eben nicht immer in die alten Strukturen.“

Wahrhaft alte Strukturen vertritt hingegen die rechtsradi­kale Volksparte­i Unsere Slowakei (ĽSNS), die ebenfalls in das Vakuum vorstoßen könnte und in Umfragen zuletzt bei über zehn Prozent lag. Mit ihr will allerdings niemand koalieren. Überhaupt könnte die Regierungs­bildung schwierig werden. Mehrere Parteien kratzen an der Fünf-Prozent-Hürde, niemand traut sich vorherzusa­gen, wie viele Fraktionen das Parlament letztlich haben wird. Es könnten sechs sein – oder auch zwölf. Wenn die Aufbruchss­timmung auch spürbar ist: Ob die Wahl in der Slowakei für geordnete Verhältnis­se sorgen kann, schien in den vergangene­n Tagen ungewisser denn je.

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Gedenkvera­nstaltung am zweiten Jahrestag des Mordes an Ján Kuciak und seiner Verlobten: „Geht wählen – damit sie nicht umsonst gestorben sind.“

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