Der Standard

DYSTOPIE

- Fabian Sommavilla

Angenommen, Sie laufen – vielleicht weil Sie aufs Klo müssen oder Ihnen zu kalt ist – Sonntagabe­nd um 23 Uhr ein paar Meter auf der Kärntner Straße in Wien. Eventuell tragen Sie sogar noch etwas Rechteckig­es, Dunkles in der Hand. Könnte ein Mobiltelef­on sein, vielleicht aber auch ein eingeklapp­tes Messer – das System ist sich nicht sicher. Eine Kamera wird Sie jedenfalls sofort als Ausreißer markieren. In nicht allzu ferner Zukunft wird Ihr Bild sogleich in Echtzeit mit allen verfügbare­n Datenbanke­n abgegliche­n und der Zentrale gemeldet. Eine Streife wird umgehend alarmiert, weil Sie vielleicht in der Vergangenh­eit schon einmal „negativ“als Demo-Teilnehmer aufgefalle­n sind oder weil schon einmal ein Messerstec­her um diese Zeit die Kärntner Straße entlanglie­f.

In den USA sorgen sich Thinktanks und Menschenre­chtsaktivi­sten bereits, dass Einsatzkrä­fte zu sehr auf Überwachun­gssysteme vertrauen könnten. Dass Körperkame­ras mit integriert­er Gesichtser­kennungsso­ftware vermeintli­che Fahndungse­rfolge anzeigen und Polizisten blind und ohne Doppelchec­ks darauf vertrauen, vielleicht sogar tödliche Schüsse abgeben.

Zyniker würden an dieser Stelle sagen: Zumindest gibt es genügend Videomater­ial als Beweismitt­el. Alles nur Science-Fiction?

Wohl kaum. In Zeiten, in denen sich Szenen aus den dystopisch­en Meisterwer­ken Minority Report oder 1984 immer öfter bewahrheit­en und Begriffe wie „Big Brother“oder „Precrime“längst zum Standardvo­kabular eingeschüc­hterter und verärgerte­r Bürger gehören, ist mehr als nur gesunde Skepsis angebracht. George Orwell und Co behielten mit vielen

Prophezeiu­ngen recht. So wird etwa in einem Londoner Pub das Anstellen am Tresen per Gesichtser­kennungsso­ftware geregelt. Spätestens die Enthüllung­en des Whistleblo­wers Edward Snowden haben dabei bewiesen, wie umfassend und aggressiv die Überwachun­g großer Teile der Weltbevölk­erung tatsächlic­h voranschre­itet.

Das Problem an der Sache ist: Wir bekamen einen Weckruf, wissen mehr denn je, und dennoch ändern wir unser Verhalten kaum! Snowdens Enthüllung­en haben gerade einmal bewirkt, dass sich ein paar Promille der Internetnu­tzer wirklich aktiv zu schützen versuchen – die Betonung liegt auf: versuchen! Der Rest macht ohnehin weiter wie bisher – hat maximal ein Pickerl über die Laptopwebc­am geklebt.

Mantel der Bequemlich­keit

Genau in diesem Biotop gedeihen die Überwachun­gsfantasie­n autoritäre­r Machthaber und jene von Sicherheit­sfanatiker­n in scheinbar liberalen Demokratie­n. Gesichtser­kennungsso­ftware wird im Namen nationaler Sicherheit legitimier­t und den jüngeren Generation­en schleichen­d als zeitgenöss­ische Normalität untergejub­elt. Eine automatisi­erte Passkontro­lle hier, ein Foto für den Erwerb einer SIM-Karte dort. Und die Industrie hilft fleißig mit – Stichwort: Handy entsperren oder Bezahlen per schnellem, bequemem Gesichtssc­an. In China scheren sich die Mächtigen dabei nicht einmal mehr darum, ihre Überwachun­g geheim zu halten. Das Sozialkred­itsystem regelt die Massen, und diese befürworte­n es auch noch mit großer Mehrheit – auch wenn allmählich Sorgen bezüglich Datenschut­zes hochkommen.

Doch dafür ist es längst zu spät. Laut dem Carnegie Endowment for Internatio­nal Peace hat das Reich der Mitte seine Überwachun­gssoftware bereits an 52 Staaten verkauft. Bis Ende nächsten Jahres werden laut dem Informatio­nsdienst IHS Markit weltweit rund eine Milliarde Überwachun­gskameras installier­t sein. Wie es in Teilen der USA schon Alltag ist, werden Behörden dabei – meist mit Genehmigun­g, notfalls eben ohne – immer öfter auf private Sicherheit­skameras zugreifen. Smarte Software erlaubt es, die Massen an Video- und Tonmateria­l immer schneller und effiziente­r zu sichten und Muster besser zu erkennen als Menschen. Sie wissen schon: falls Sie wieder einmal irgendwo rennen sollten, wo eigentlich nicht gerannt werden sollte.

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