DYSTOPIE
Angenommen, Sie laufen – vielleicht weil Sie aufs Klo müssen oder Ihnen zu kalt ist – Sonntagabend um 23 Uhr ein paar Meter auf der Kärntner Straße in Wien. Eventuell tragen Sie sogar noch etwas Rechteckiges, Dunkles in der Hand. Könnte ein Mobiltelefon sein, vielleicht aber auch ein eingeklapptes Messer – das System ist sich nicht sicher. Eine Kamera wird Sie jedenfalls sofort als Ausreißer markieren. In nicht allzu ferner Zukunft wird Ihr Bild sogleich in Echtzeit mit allen verfügbaren Datenbanken abgeglichen und der Zentrale gemeldet. Eine Streife wird umgehend alarmiert, weil Sie vielleicht in der Vergangenheit schon einmal „negativ“als Demo-Teilnehmer aufgefallen sind oder weil schon einmal ein Messerstecher um diese Zeit die Kärntner Straße entlanglief.
In den USA sorgen sich Thinktanks und Menschenrechtsaktivisten bereits, dass Einsatzkräfte zu sehr auf Überwachungssysteme vertrauen könnten. Dass Körperkameras mit integrierter Gesichtserkennungssoftware vermeintliche Fahndungserfolge anzeigen und Polizisten blind und ohne Doppelchecks darauf vertrauen, vielleicht sogar tödliche Schüsse abgeben.
Zyniker würden an dieser Stelle sagen: Zumindest gibt es genügend Videomaterial als Beweismittel. Alles nur Science-Fiction?
Wohl kaum. In Zeiten, in denen sich Szenen aus den dystopischen Meisterwerken Minority Report oder 1984 immer öfter bewahrheiten und Begriffe wie „Big Brother“oder „Precrime“längst zum Standardvokabular eingeschüchterter und verärgerter Bürger gehören, ist mehr als nur gesunde Skepsis angebracht. George Orwell und Co behielten mit vielen
Prophezeiungen recht. So wird etwa in einem Londoner Pub das Anstellen am Tresen per Gesichtserkennungssoftware geregelt. Spätestens die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden haben dabei bewiesen, wie umfassend und aggressiv die Überwachung großer Teile der Weltbevölkerung tatsächlich voranschreitet.
Das Problem an der Sache ist: Wir bekamen einen Weckruf, wissen mehr denn je, und dennoch ändern wir unser Verhalten kaum! Snowdens Enthüllungen haben gerade einmal bewirkt, dass sich ein paar Promille der Internetnutzer wirklich aktiv zu schützen versuchen – die Betonung liegt auf: versuchen! Der Rest macht ohnehin weiter wie bisher – hat maximal ein Pickerl über die Laptopwebcam geklebt.
Mantel der Bequemlichkeit
Genau in diesem Biotop gedeihen die Überwachungsfantasien autoritärer Machthaber und jene von Sicherheitsfanatikern in scheinbar liberalen Demokratien. Gesichtserkennungssoftware wird im Namen nationaler Sicherheit legitimiert und den jüngeren Generationen schleichend als zeitgenössische Normalität untergejubelt. Eine automatisierte Passkontrolle hier, ein Foto für den Erwerb einer SIM-Karte dort. Und die Industrie hilft fleißig mit – Stichwort: Handy entsperren oder Bezahlen per schnellem, bequemem Gesichtsscan. In China scheren sich die Mächtigen dabei nicht einmal mehr darum, ihre Überwachung geheim zu halten. Das Sozialkreditsystem regelt die Massen, und diese befürworten es auch noch mit großer Mehrheit – auch wenn allmählich Sorgen bezüglich Datenschutzes hochkommen.
Doch dafür ist es längst zu spät. Laut dem Carnegie Endowment for International Peace hat das Reich der Mitte seine Überwachungssoftware bereits an 52 Staaten verkauft. Bis Ende nächsten Jahres werden laut dem Informationsdienst IHS Markit weltweit rund eine Milliarde Überwachungskameras installiert sein. Wie es in Teilen der USA schon Alltag ist, werden Behörden dabei – meist mit Genehmigung, notfalls eben ohne – immer öfter auf private Sicherheitskameras zugreifen. Smarte Software erlaubt es, die Massen an Video- und Tonmaterial immer schneller und effizienter zu sichten und Muster besser zu erkennen als Menschen. Sie wissen schon: falls Sie wieder einmal irgendwo rennen sollten, wo eigentlich nicht gerannt werden sollte.