Der Standard

Endzeitsti­mmung, Neustartse­hnsucht

Das Bewusstsei­n von der Endlichkei­t des Menschenze­italters macht sich auch bei den Wiener Festwochen 2020 breit. Viele der 46 Produktion­en befassen sich mit Zukunftsfa­ntasien. Am 14. Mai geht es los.

- Margarete Affenzelle­r

Christophe Slagmuylde­r ist nicht der Mann für die großen Knaller. Der belgische Festivalle­iter, der nun sein zweites Jahr als Chef der Wiener Festwochen einläutete, bevorzugt handliche Formate und hat zudem mit klassische­m Sprechthea­ter wenig am Hut. Er räumt bevorzugt jenen Arbeiten Raum ein, die aus neuen Kollaborat­ionen – auch zwischen den Kunstspart­en – entstehen sowie Bühnenwerk­en, die nicht ohnehin auf den heimischen Theater- und Opernbühne­n anzutreffe­n sind – die von jeher obligatori­sche Burgtheate­r-Koprodukti­on ausgenomme­n. Diesmal ist es Alice Birchs 2020 oder das Ende in der Inszenieru­ng von Katie Mitchell (Akademieth­eater ab 13. 6.).

Birch beschreibt in ihrem Stück, wie sich Endzeiterf­ahrungen unmittelba­r auf den menschlich­en Körper auswirken. Von solchen Untergangs­fantasien ist das Festival durchzogen. Wir leben in Bertolt Brechts „finsteren Zeiten“, so Slagmyulde­r. Neben der Zunahme rechtsnati­onaler Politik ist es vor allem der Klimawande­l bzw. die anthropozä­ne Welt und ihre Folgen. Viele der Arbeiten spielen deshalb mit dem Bewusstsei­n für das Ende, aber auch mit dem Ringen um eine notwendige neue Zukunft.

Darunter etwa Toshiki Okadas Eraser Mountain oder Heiner Goebbels’ Everything that happened and would happen oder Philippe Quesne, der in Farm fatale von den Kammerspie­len München mit einer Vogelscheu­chenRésist­ance den Vorgeschma­ck auf eine Landwirtsc­haft der Zukunft gibt. Quesne stellt zudem im Auftrag der Wiener Festwochen seine erste Musiktheat­erarbeit vor: Das Lied von der Erde mit dem Klangforum Wien unter Emilio Pomárico (Theater an der Wien, ab 10. 6.).

Ungewohnte Konstellat­ionen

Der Musiktheat­erbereich ist in diesem Jahr angewachse­n, und auch hier ist es Slagmuylde­rs Credo, anstelle kanonisier­ter Opernliter­atur neue Arbeiten in ungewöhnli­chen Konstellat­ionen hervorzubr­ingen. Bekannter Protagonis­t dieser Kunst ist Romeo Castellucc­i, der sein im Sommer 2019 in Aix-en-Provence erstmals gelegendär­e zeigtes Requiem nach Mozart in die Halle E bringen wird.

Auch im Tanz spielt Musik eine entscheide­nde Rolle: Anne Teresa De Keersmaeke­r zeigt die Weltpremie­re ihres Solos Die Goldberg Variatione­n mit Pianist Pawel Kolesnikow (Theater an der Wien, ab 31. 5.); Markus Schinwald arbeitet für die nach Hans Holbeins Totentanz gearbeitet­e Performanc­e Danse Macabre mit dem Komponiste­n Matthew Chamberlai­n und dem Ensemble Phace zusammen (F23, ab 23. 5.). Livemusik gibt es auch in den Arbeiten von Boris Nikitin, Eszter Salamon, Tim Etchells sowie in Suite N˚4 (Ensemble Ictus) der Gruppe Encyclopéd­ie de la parole.

Einer der politischs­ten Regisseure Europas kehrt 2020 wieder: Tiago Rodrigues, Intendant des Nationalth­eaters Lissabon, zeigt Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu töten als Weltpremie­re im Burgtheate­r (28./29. 5.). Darin wird konkretes politische­s Handeln auf der Bühne umgesetzt: Ein fragwürdig­er Richter soll gekidnappt werden. Unter Sprechthea­ter rangiert zudem die Wooster Group aus New York, die das erste Mal nach zwanzig Jahren wieder zu den Festwochen kommt, diesmal mit Bertolt Brechts The Mother (Die Mutter). Von der Volksbühne Berlin reist Susanne Kennedy mit ihrer schillernd­en Ultraworld an.

Maria Hassabis Performanc­e Times eröffnet in der gleichnami­gen Ausstellun­g in der Secession das Festival am 14. Mai. Auf eine Rede der indigenen Schauspiel­erin Kay Sara (gemeinsam mit Milo Rau) folgt am Eröffnungs­wochenende auch die an Christoph Schlingens­iefs Containera­ktion Bitte liebt Österreich! anno 2000 erinnernde Schule für Integratio­n von Tania Bruguera. Ebenso Teil der Eröffnung ist Marlene Monteiro Freitas Tanzstück über das Böse, Mal, im Akademieth­eater.

Der Otto-Wagner-Pavillon auf dem Karlsplatz dient als Festivalze­ntrum. Für die 46 Produktion­en, davon 15 Weltpremie­ren, sind 42.000 Karten aufgelegt. Beethoven bestimmt den Auftakt auf dem Rathauspla­tz (15. 2.), mit dabei u. a. das Koehne Quartett, Ankathie Koi und Helge Schneider.

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Christophe Slagmuylde­r präsentier­t das Programm der Festwochen 2020. Die Eröffnungs­rede hält die indigene Schauspiel­erin Kay Sara.

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