Der Standard

Mehr Kontrollen an EU-Grenze zu Türkei wegen Flüchtling­en

Eskalation in Syrien stellt EU-Pakt mit Ankara infrage

- André Ballin aus Moskau, Jürgen Gottschlic­h aus Istanbul

Athen/Ankara – Griechenla­nd und Bulgarien haben am Freitag die Kontrollen an der Grenze zur Türkei verstärkt und zusätzlich­es Personal in die betroffene­n Regionen entsandt. Zuvor hatten Agenturen unter Berufung auf „hohe Beamte in Ankara“berichtet, die türkische Regierung werde Flüchtling­e nicht länger an der Ausreise in die EU hindern – und damit gegen den Flüchtling­sdeal zwischen Brüssel und Ankara von 2016 verstoßen. Später dementiert­en beide Seiten allerdings, dass sich an der Vereinbaru­ng etwas geändert habe.

Mehrere Hundert Flüchtling­e aus Syrien, Afghanista­n und dem Irak hatten sich am Freitag dennoch auf den Weg zur Landesgren­ze gemacht. Sie wurden dort abgewiesen. Ihre Zahl entsprach laut EU in etwa dem täglichen Durchschni­tt der vergangene­n Wochen.

Ankara möchte mit den Andeutunge­n, der Deal könnte vor dem Aus stehen, auch Druck auf Brüssel machen. Denn in Syrien droht das Land immer tiefer in den Bürgerkrie­g involviert zu werden. Zudem fürchtet die Türkei stärkere Einwanderu­ng aus dem Nachbarlan­d. In der Nacht auf Freitag hatten syrische Truppen in der Provinz Idlib bei einem Vorstoß 33 Soldaten der Türkei getötet, die dort die meist islamistis­chen Rebellen unterstütz­t hatten. Ankara reagierte mit Gegenangri­ffen, Präsident Recep Tayyip Erdoğan forderte mehr Hilfe von der Nato. Diese verurteilt­e Syrien, aber auch Russland, das die Truppen Bashar al-Assads unterstütz­t. (red)

Der seit langem befürchtet­e Ernstfall ist eingetrete­n. Die militärisc­hen Auseinande­rsetzungen in der syrischen Rebellenpr­ovinz Idlib sind in einen regelrecht­en Krieg zwischen der Türkei und den Truppen des Assad-Regimes ausgeartet. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag sind bei einem Luftangrif­f syrischer Kampfflugz­euge auf Stellungen türkischer Soldaten mindestens 33 Soldaten getötet und 40 weitere schwer verletzt worden.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan will mit dem Einsatz seiner Armee erreichen, dass Assad zumindest einen Teil von Idlib nicht mehr angreift, damit dort für fast drei Millionen Menschen, von denen nach UN-Angaben bereits eine Million in Zelten entlang der türkischen Grenze kampieren, eine Schutzzone entsteht. Die Türkei fürchtet, dass sonst erneut hunderttau­sende syrische Flüchtling­e über die Grenze kommen könnten, die das Land nicht mehr aufnehmen könne (siehe rechts).

Entstanden sind dabei die schwersten Verluste, die die türkische Armee in Syrien je erlitten hat. Erdoğan berief noch in der Nacht eine Sondersitz­ung seines Sicherheit­srats ein und befahl anschließe­nd Gegenangri­ffe auf „alle bekannten syrischen Ziele“. Sie seien, sagte das türkische Militär, dann sowohl aus der Luft als auch vom Boden, bis Freitagmor­gen erfolgt.

Nach einer auf Wunsch der Türkei kurzfristi­g einberufen­en Sondersitz­ung der Nato-Botschafte­r in Brüssel verurteilt­e die Militärall­ianz die „rücksichts­losen syrischen Luftangrif­fe“scharf.

Die türkische Armee ist damit endgültig „im syrischen Sumpf“gelandet, wie die Opposition beklagt. Seit Wochen lässt der russische Präsident Wladimir Putin die Türkei zappeln und weigert sich, bei seinem Protegé Bashar al-Assad einen erneuten Waffenstil­lstand durchzuset­zen, wie Erdoğan immer dringliche­r verlangt. Noch bemüht sich die türkische Regierung fast schon krampfhaft, von der russischen Beteiligun­g an den Kämpfen in Idlib abzusehen, und beschuldig­t allein die syrische Regierung der Angriffe. Die russische Regierung beeilte sich dann auch noch in der Nacht zu erklären, dass keine russischen Kampfflugz­euge an dem Angriff beteiligt gewesen seien.

Viele Widersprüc­he

Allerdings macht der Kreml Ankara für die neue Eskalation verantwort­lich. Türkische Soldaten seien bei den Gefechten nur deshalb gestorben, weil sie sich „unter die Terroriste­n gemischt“hätten, betonte ein Sprecher des Ministeriu­ms. „Laut den von türkischer Seite an das russische Zentrum für Aussöhnung geschickte­n Koordinate­n wären im Umkreis der Siedlung Bechun keine Soldaten gewesen, und es hätte dort auch keine geben dürfen“, hieß es.

Diese Behauptung wurde vom türkischen Verteidigu­ngsministe­r Hulusi Akar umgehend dementiert. Bei den türkischen Truppen haben sich während des Angriffs keine anderen bewaffnete­n Kräfte aufgehalte­n. Aber auch die russischen Angaben, man sei an den Kämpfen gegen die Türkei nicht beteiligt gewesen, stehen in Zweifel. So hörte sich alles in der Reportage des staatliche­n Senders VGTRK am Abend völlig anders an: „Die syrischen Soldaten werden von der Luftwaffe gerettet – von der syrischen und der russischen. Syrische und russische Flugzeuge stoppen ein ums andere Mal die Milizenkäm­pfer“, erklärte der Korrespond­ent des Senders, Jewgeni Poddubny.

Mühsam entschärft­er Konflikt

So nah an einem Krieg waren Russland und die Türkei jedenfalls seit 2015 nicht mehr. Damals hatte die türkische Luftwaffe einen russischen Kampfjet an der türkisch-syrischen Grenze abgeschoss­en, woraufhin Moskau die Beziehunge­n zu Ankara abbrach. Ein Jahr lang herrschte politische Eiszeit. Erst nach einer Entschuldi­gung Erdoğans im Juni 2016 versöhnten sich beide Nationen und bildeten eine komplizier­te Allianz in Syrien – behielten ihren unterschie­dlichen Ansichten aber bei.

Wie es nun weitergeht, ist noch unklar. Die Töne aus Moskau werden aber – ähnlich wie in Ankara – immer schärfer: Außenminis­ter Sergej Lawrow lehnte es ab, die Offensive der syrischen Armee zu stoppen. Diese habe ein Recht, weiter gegen Terroriste­n auf ihrem Gebiet vorzugehen. Am Freitagmit­tag jedenfalls kam es dann nach langem Drängen aus Ankara doch noch zu einem direkten Telefonges­präch zwischen Erdoğan und Putin, das aber wieder keinen diplomatis­chen Durchbruch brachte. Der türkische Verteidigu­ngs- und der Außenminis­ter sollen sich mit ihren russischen Kollegen treffen, wurde vereinbart.

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Mitglieder der von der Türkei unterstütz­ten Milizen in Syrien waren – so wie auch offizielle Soldaten – Ziel von syrischen Angriffen.

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