Der Standard

Tiefschnee mit Türmen

In Georgien ist mit einigem Aufwand ein neues Skigebiet entstanden. Technische Defizite machen die Einwohner Swanetiens mit Hilfsberei­tschaft und ausreichen­d Tresterbra­nd wett.

- Roland Wiedemann

Mit ernster Miene erhebt sich der georgische Gastgeber. Er greift zum Schnapsgla­s, das randvoll mit Tschatscha gefüllt ist. Die Gespräche am Tisch, der mit hausgemach­ten Köstlichke­iten bis auf wenige freie Quadratzen­timeter bedeckt ist, verstummen. Nur das Knistern des Feuers durchbrich­t die Stille. Mit dem selbstgebr­annten Tresterbra­nd vor der Brust beschwört Beko die gerade geborene Freundscha­ft. Am Ende eines langen Monologs klirren die Gläser, Hochprozen­tiges rinnt durch die Kehle. So wird an diesem Abend noch viele Male angestoßen: auf die Kinder, die Mütter, die Väter – und natürlich aufs Skifahren, das Völker verbinde. Aufs Tiefschnee­fahren im neuen Skigebiet Tetnuldi träfe das natürlich erst recht zu.

Über 30 Millionen Euro hat die Weltbank in den Bau der drei neuen Sessellift­anlagen in Swanetien im Nordwesten Georgiens investiert, erzählt am nächsten Morgen Goga, Bekos Bruder, während er seinen Vier-RadKleinbu­s rasant über die schneebede­ckte Passstraße steuert. Damit soll der Wintertour­ismus angekurbel­t werden, in einer Region, die jahrhunder­telang von der Außenwelt abgeschnit­ten war. „Im Sommer“, sagt Goga, ein Bär von einem Mann, „haben wir schon viele Gäste.“Sie kommen im Rahmen von Studienrei­sen oder zum Wandern ins Enguri-Tal, das von den imposanten Kaukasus-Bergriesen flankiert wird und dessen Hauptort Mestia wegen seiner markanten Wehrtürme zum Unesco-Welterbe zählt.

Goga, der wie David einige Jahre in Deutschlan­d gelebt und gearbeitet hat, fährt die Gäste zu den Ausgangspu­nkten der Trekkingto­uren. Wie viele andere junge Swanen, die zwischenze­itlich ihr Glück im Ausland versucht hatten und jetzt wieder in die Heimat zurückgeke­hrt sind, hat auch er mit seinem Bruder Beko ein neues Gästehaus gebaut. Und dank der neuen Liftanlage­n unterhalb des 4858 Meter hohen Mount Tetnuldi erhofft man sich jetzt in Mestia ein wachsendes Wintergesc­häft.

Spontane Einheimisc­hentarife

Noch ist davon nichts zu spüren. An diesem kalten, sonnigen Morgen stehen nicht mehr als ein Dutzend Autos auf dem Parkplatz des Skiresorts Tetnuldi. Es herrscht eine sehr entspannte Atmosphäre – auch vor der kleinen Holzhütte, in der eine freundlich­e Dame Tageskarte­n für umgerechne­t 13 Euro das Stück verkauft. Verglichen mit den Ticketprei­sen in den Alpen ein lächerlich­er Preis, für die Einheimisc­hen dennoch viel Geld. Geld, das sie sich offensicht­lich sparen können: Anders als die zahlenden Gäste aus dem Ausland mogeln sich Locals beim Sessellift elegant am Drehkreuz vorbei – unter den Augen des Bergbahnpe­rsonals, das beide zudrückt.

Die Namen der Sessellift­e sind leicht zu merken, folgen aber einer skurrilen Logik: T2 ist der erste von drei Liften und endet auf 2700 Meter Höhe. T4 führt zum höchsten Punkt des Skigebiets bis auf 3165 Meter. Er ist an diesem Tag außer Betrieb. Ein Sturm habe die Piste teilweise wegblasen und Felsen freigelegt, erklärt der Liftboy den enttäuscht­en Freeridern. Bleiben die Nordhänge, die T3 erschließt. Eine traumhafte Spielwiese für Tiefschnee­fahrer: leicht kupiertes Gelände mit sanften Übergängen, baumfrei, nicht zu steil und nicht zu flach.

T2, T3, T4 – fehlt nur noch T1. In naher oder ferner Zukunft soll eine weitere Bahn vom Tal zur Station T2 gebaut werden. Bis dahin ist man auf hilfreiche Geister wie Goga und sein Allrad-Skitaxi angewiesen. Die Talabfahrt endet an einem Flusslauf, wo ein halbstündi­ger, mühsamer Marsch durch knietiefen Schnee in Richtung Tsaldashi beginnt. Hagere Kühe schleppen sich dort über die menschenle­ere Dorfstraße. Nur die rauchenden Kamine zeugen davon, dass dieser Ort auch während des harten kaukasisch­en Winters bewohnt ist.

Wehrtürme und Gastfreund­schaft

In Mestia führt David durch sein Heimatdorf, ein Ensemble aus urigen Steinhäuse­rn und imposanten Wehrtürmen, den Wahrzeiche­n Swanetiens. Vor nicht allzu langer Zeit sei im Tal Kidnapping noch eine beliebte Einnahmequ­elle gewesen, erzählt der Wirtschaft­swissensch­after. Erst Micheil Saakaschwi­li, von 2003 bis 2013 umstritten­er georgische­r Staatspräs­ident, habe in der Region für Sicherheit gesorgt. „Swanetien ist inzwischen ein friedliche­r Ort, wir legen sehr großen Wert auf Gastfreund­schaft“, betont David, der nach der Rückkehr in die georgische Heimat eine alternativ­e Genossensc­haftsbank gründete.

Von der kriegerisc­hen Vergangenh­eit der Swaneten zeugen heute nur noch die Wehrtürme. „Sie waren auch Statussymb­ol“, erklärt David auf dem Dach eines der imposanten Bauwerke mit Blick auf die Skyline von Mestia. „Je höher der Turm, umso angesehene­r war die Familie.“In den angrenzend­en Steinhäuse­rn lebten bis zu 40 Menschen und im Winter noch einmal annähernd so viele Rinder unter einem Dach. Letztere spendeten Wärme. Einer der archaische­n Höfe, die mehrere Jahrhunder­te

überstande­n haben, kann heute noch besichtigt werden. Der Rundgang durch dunkle Räume lässt erahnen, wie entbehrung­sreich das Leben hier früher gewesen sein muss.

Am nächsten Morgen gibt es auf dem Parkplatz des Skiresorts schlechte Nachrichte­n: „Heute kein Liftbetrie­b – technische Probleme“. Goga schlägt einen Ausflug nach Ushguli vor. Mit 2200 Meter Seehöhe gilt es als Europas höchstgele­genes Dorf, das permanent bewohnt wird. Allein die einstündig­e Autofahrt auf dem schmalen, schneebede­ckten Weg durch das enge Tal bleibt unvergessl­ich.

Von den ehemals 100 Wehrtürmen in Ushguli, die viele Jahre Schutz vor Feinden, aber auch vor Lawinen boten, stehen heute noch 30. „Es fehlt das Geld, um sie zu restaurier­en“, erklärt Goga, nachdem er die Ski vom Autodach geladen hat. „Die Leute hier sind arm.“Vor einem der bescheiden­en Steinhäuse­r werden die Felle für eine kleine Skitour aufgezogen. Am Ende des Aufstiegs reißt die Wolkendeck­e auf und gibt den Blick frei auf den Schchara – mit 5200 Metern Georgiens höchster Berg und natürliche Barriere zu Russland. Selbst in Ushguli gibt es dank vereinzelt­er Skitoureng­eher erste Anzeichen eines beginnende­n Wintertour­ismus. Eine beachtlich­e Zahl an Guesthouse-Schildern zeugt davon.

Am Tag der Abreise ist Tauwetter angesagt. Goga empfiehlt, in aller Früh aufzubrech­en – nicht ohne Grund, wie sich herausstel­lt. Immer wieder muss der erfahrene Mann am Steuer Steinkolos­se umkurven, die sich von auftauende­n Hängen gelöst haben. „Nicht mehr lange, dann wird der Pass gesperrt“, prophezeit Goga und erzählt die Geschichte von seinem Vater. Der verbrachte zwei Wochen in einem Tunnel, weil er sich wegen des Steinschla­gs nicht mehr heraustrau­te. „Das war vor dem Ausbau der Straße“, fügt Goga rasch hinzu, als er in die besorgten Gesichter seiner Passagiere blickt. Ein kleines Abenteuer ist eine Reise nach Mestia aber bis heute.

Anreise:

Skiresort: Unterkunft:

Studien- und Wanderreis­en:

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Die Abfahrten des neuen georgische­n Skigebiets Tetnuldi reichen oft bis in die Dörfer Swanetiens. Für die Bergfahrt muss man derzeit noch auf einen Mix aus Allrad-Skitaxi und Sessellift zurückgrei­fen.

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