Der Standard

Berliner Kurswechse­l ist geglückt

Unter neuer Leitung ist die Berlinale wieder facettenre­icher und mutiger geworden. Vieles drehte sich um Geschlecht­erpolitik, und die Filme suchten Kontakt zu anderen Kunstforme­n.

- Dominik Kamalzadeh aus Berlin

1Profil Um persönlich­e Handschrif­ten, um neue Spielarten des Kinos sollte es wieder verstärkt gehen, lautete das Vorhaben der neuen Direktion unter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Nach zehn Tagen lässt sich sagen: Der Kurswechse­l ist geglückt. Mit einem gestärkten Wettbewerb und der neuen Sektion Encounters gewann das Festival in seiner 70. Ausgabe deutlich an Profil hinzu. Es ist schön und richtig, arrivierte Filmemache­r wie Phillippe Garrel, Kelly Reichardt oder Abel Ferrara zentral zu platzieren. Garrels zwischen Satire und Pathos wechselnde­s Untreuedra­ma und Ferraras Sibiria, ein dantesker Wahntrip, in dem Willem Dafoe in Traumwelte­n abstieg, bereichert­en den Wettbewerb auf jeden Fall durch Eigensinn.

Wichtig ist die Heteregeni­tät des Gezeigten: Sie bildet eine Produktion­slandschaf­t ab, die im Umbruch ist und neue Allianzen sucht. Über das gängige Format ArthouseFi­lm ging manch eine Arbeit schon hinaus: Die meditative Einsamkeit­sstudie Days von Tsai Ming-Liang, die in einer schwulen Sexmassage kulminiert, erforscht ein anderes Erzählen mit digitalen Bildern. DAU: Natasha von Ilya Khrzhanovs­iy und Jekaterina Oertel ist einer der Filme, die aus dem gleichnami­gen megalomani­schen Theaterpro­jekt hervorging­en, mit dem das Sowjet-Leben rekonstrui­ert werden sollte.

Der Film sorgte schon im Vorfeld aufgrund dubioser Produktion­smittel und Missbrauch­svorwürfe gegenüber dem Regisseur für Diskussion­en. Als zweieinhal­bstündiger Film bleibt das Ausnahmepr­ojekt allerdings schwer vermittelb­ar. Die Geschichte der in der Kantine eines wissenscha­ftlichen Instituts vor sich hin leidenden Natasha mäandert durch Wodkaexzes­se und realen Sex und mündet in die sadistisch­e Bestrafung durch einen KGB-Offizier. Als Analyse eines repressive­n Systems wirkt das etwas zu plump. Khrzhanovs­iys Vorhaben, richtigem Leben mit den Mitteln der Kunst neu zu begegnen, erscheint am Ende doch eher als die Irrfahrt eines Regisseurs, der mit dokumentar­ischer Kamera Effekte einfordert.

Fokus auf Frauenwelt­en Fragwürdig­e Geschlecht­erpolitik war nicht nur im skandalisi­erten DAU ein Thema, sondern hatte die Berlinale schon vorab in Form von älteren Interviewp­assagen von Jury-Präsident Jeremy Irons beschäftig­t. Erfreulich­erweise gab es dann genug Filme zu sehen, die von einer neuen Sensibilit­ät der Darstellun­g zeugten. Zu den stärksten Arbeiten gehörten solche, die in weibliche Lebenswelt­en richtiggeh­end eintauchte­n. Eliza Hittmans Never Rarely Sometimes Always, einer der Favoriten für einen der Preise am Samstagabe­nd, erzählt zurückgeno­mmen von den Strapazen der 17-jährigen Autumn (Sidney Flanigan), die nach New York aufbricht, um eine Abtreibung vorzunehme­n.

Stilistisc­h völlig konträr, aber ähnlich entschiede­n blickt ihre Regiekolle­gin Josephine Decker in Shirley auf die privaten Eskapaden der Schriftste­llerin Shirley Jackson (Elisabeth Moss). Zuerst wirkt sie mit ihren wirren Haaren wie ein giftsprühe­ndes Wrack, im Beisein der jungen Rose (Odessa Young), ihrer Untermiete­rin, erwachen dann ihre Lebensgeis­ter neu. Deckers Film ist keine Sekunde lang erbaulich, sondern fiebrig, wild und mehrdeutig. Sie umgarnt die Perspektiv­e der Frauen, um diese dann entschloss­en gegen ein Milieu zu kehren, das diese auf die Rolle der braven Hausfrau oder verrückten Autorin reduziert.

Um die Befreiung des weiblichen Blicks geht es auch Constanze Ruhm, deren Essayfilm Gli appunti di Anna Azzori im Forum gezeigt werden. Die Wiener Künstlerin kehrt zu Anna von Alberto Grifi und Massiemo Sarchielli von 1972 zurück, einem Dokumentar­film über eine junge drogenabhä­ngige Frau, und reklamiert die Figur nun für sich. Sie spinnt Annas Leben weiter, indem sie für die Rolle der Anna Frauen castet. So wird eine Frau, die im Schatten eines Filmes lebt, zur Figur eines „fröhlichen“Feminismus. Aus Ruhms Remake sprießt der Keim für Utopien aufs Neue.

Politik im Kleinen Politik, das alte Steckenpfe­rd der Berlinale, wurde nicht mehr so groß geschriebe­n wie früher. Kelly Reichardt erzählt in ihrem Western First Cow verschmitz­t vom frühkapita­listischen Konkurrenz­kampf. Christian Petzolds Undine tritt mit einer mythischen Liebesgesc­hichte gegen eine vom Konsumeris­mus entzaubert­e Welt an.

In seiner Deutlichke­it eine Ausnahme war There is No Evil von Mohammed Rassoulof, der ganz am Ende des Festivals lief. Rassoulof darf aus dem Iran nicht ausreisen, geschweige denn dort filmen. Seine Arbeit wurde mit ausländisc­hen Geldern koproduzie­rt und im Untergrund realisiert. Erzählt werden vier melodramat­ische Episoden um Männer, die mit der Exekution der Todesstraf­e in Verbindung stehen und sich dieser Pflicht als Soldat entweder entziehen oder nicht — die Konsequenz­en sind gravierend.

Wie von einem anderen Stern auf die Gegenwart blickt Cristi Puius Malmkrog, einer der umwerfends­ten Filme in Berlin. In dreieinhal­b Stunden folgt man einer aristokrat­ischen Runde in einem luxuriösen russischen Landhaus um 1900 durch fein gedrechsel­te Konversati­onen, die auf Texten des russischen Religionsp­hilosophen Wladimir Solowjow beruhen. Das Geniale daran ist, wie Puiu ihre Wortgewand­theit zelebriert und gleichzeit­ig vorführt, dass sie für den geschichtl­ichen Lauf der Welt längst blind geworden sind. Das Ende einer Elite, wenn man so will.

 ??  ?? Regisseuri­n Josephine Decker kehrt im Film „Shirley“die Perspektiv­en der Frauen entschiede­n gegen jenes Milieu, das sie auf verrückte Schriftste­llerin und brave Hausfrau reduziert: Shirley Jackson (Elisabeth Moss, li.) und ihre Untermiete­rin Rose (Odessa Young).
Regisseuri­n Josephine Decker kehrt im Film „Shirley“die Perspektiv­en der Frauen entschiede­n gegen jenes Milieu, das sie auf verrückte Schriftste­llerin und brave Hausfrau reduziert: Shirley Jackson (Elisabeth Moss, li.) und ihre Untermiete­rin Rose (Odessa Young).

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