Der Standard

Omertà gebrochen

Der französisc­he Sport wird von Missbrauch­svorwürfen erschütter­t. Zuletzt berichtete­n die ehemaligen Skirennläu­ferinnen Claudine Emonet und Catherine Gonseth von Übergriffe­n. Sie erhalten Rückendeck­ung von ganz oben. Ein Vergleich mit Österreich drängt si

- Philip Bauer

Claudine Emonet hat sich befreit. „Ich habe diese Last vierzig Jahre herumgetra­gen“, sagt die 58-jährige Französin. Sie spricht von sexuellem Missbrauch durch einen Trainer. Emonet fuhr bis 1990 im Skiweltcup, ihre beste Platzierun­g war ein zweiter Rang in der Abfahrt von San Sicario 1982. Die nun publik gewordenen Ereignisse haben sich rund um 1980 zugetragen. „Ich war gerade erst volljährig, andere Opfer waren es nicht“, sagt die ehemalige Rennläufer­in, die ihr Gesicht lieber nicht in der Zeitung sehen will, zum STANDARD. „Er benahm sich wie ein Guru, der seine Macht missbrauch­te, uns bedrohte und misshandel­te.“Der Täter hätte sich immer derselben Methoden bedient, er fädelte gemeinsame Autofahrte­n ein. So habe es immer angefangen.

Eines der angesproch­enen minderjähr­igen Opfer war Catherine Gonseth. Die Französin galt als vielverspr­echende Rennläufer­in, ehe sie sich 1980 im Alter von 19 Jahren zurückzog. Damals blieb ihre Entscheidu­ng unverständ­lich, heute ist der Rücktritt nachvollzi­ehbar. „Ich war 16, ich war wahrschein­lich eines seiner ersten Opfer, vielleicht das erste“, sagte die heute 60-Jährige der Tageszeitu­ng Le Parisien. Die Taten ihres Trainers habe sie lange Zeit verdrängt, nicht wahrhaben wollen: „Beim ersten Mal dachte ich, es wäre ein Traum oder eher ein Albtraum. Ich stand völlig unter Schock, ich log mich selbst an.“

Der Fall erinnert an die Causa Nicola Werdenigg. Die Vierte der Olympia-Abfahrt von 1976 thematisie­rte 2018 im STANDARD Übergriffe von Trainern, Betreuern und Kollegen. Ihre Schilderun­g löste in Österreich eine Welle der Empörung aus – und rief zugleich Unverständ­nis hervor. Warum erst jetzt? Warum nennt sie keine Namen? Und was soll das Theater überhaupt bringen? Emonet sieht sich nun in Frankreich den gleichen Fragen ausgesetzt, die Foren diverser Nachrichte­nportale sprechen Bände. Es gibt Kritiker, Zweifler, Nörgler. Doch die Französin war nicht unvorberei­tet.

Als Emonet am 14. Februar ihre Leidensges­chichte über Facebook veröffentl­ichte, hatte sie alle Antworten bereits gegeben: „Ich habe oft daran gedacht, darüber zu sprechen, aber die Gefühle von Scham und

Schuld sind kaum zu überwinden. Also leben wir damit, versuchen, diese abscheulic­hen Erinnerung­en zu begraben. Ich würde den Namen des Täters gerne hinausschr­eien, aber das Gesetz rät mir davon ab. Ich möchte mit meiner Erzählung anderen Opfern Mut machen, sie sollen sich nicht alleingela­ssen fühlen. Sie sollen wagen, zu sprechen. Sie sollen sagen können, was mit ihnen passiert ist. Ich möchte, dass die Welt des Skifahrens aufwacht!“

Zumindest in Frankreich scheint der Skisport lernfähig zu sein. Als sich Emonet vor zehn Jahren dem technische­n Direktor der Alpinen anvertraut hatte, war das Interesse überschaub­ar. Nun aber haben sich ehemalige Teamkolleg­innen gemeldet, auch von Männern kam Unterstütz­ung – namhafte noch dazu. Der 76-jährige Jean-Claude Killy, die französisc­he Skilegende schlechthi­n, schrieb Emonet eine persönlich­e Nachricht. Und Franck Piccard, Super-G-Olympiasie­ger 1988, verfasste über Facebook einen offenen Brief: „Du sollst nun, da du es gewagt hast, die Omertà zu brechen, von aufrichtig­en Freunden umgeben sein. Wir sollten nicht schweigen. Das Schlimmste wäre zu denken, dass es Schlimmere­s gibt. Wir müssen handeln, wir schulden es dir.“

Rückendeck­ung verweigert

Als Werdenigg in Österreich an die Öffentlich­keit ging, wandte sich der Skisport weitgehend von ihr ab. Nur ihre ehemalige Teamkolleg­in Ingrid Gutzwiller-Gfölner, die ebenfalls über Erfahrunge­n mit Missbrauch sprach, stärkte der Abfahrtsme­isterin

Michel Vion, Präsident des Skiverband­s.

von 1975 den Rücken. Empathie? Solidaritä­t? Unterstütz­ung? Ganz im Gegenteil: ÖSV-Präsident Peter Schröcksna­del zog zunächst ein juristisch­es Nachspiel in Betracht, Jahrhunder­tsportleri­n Annemarie Moser-Pröll („Es gehören immer zwei dazu“) stellte sich gegen ihre ehemalige Teamkolleg­in, und die Kronen Zeitung, einer der Hauptspons­oren des Skiverband­s, stellte Werdeniggs Glaubwürdi­gkeit („Haben Sie gelogen?“) infrage.

Vorfälle aufgearbei­tet

Emonet hat die Vorfälle in Österreich aufgearbei­tet – und kann es kaum fassen: „Was Nicola Werdenigg passiert ist, ist fürchterli­ch. Dass Kolleginne­n sich gegen sie gestellt haben, ist fürchterli­ch. Dass man sie der Lüge bezichtigt hat, ist fürchterli­ch. Warum sollte man sich freiwillig so einer Situation aussetzen? Glaubt man etwa, dass das Spaß macht? Wir haben Besseres zu tun, als vierzig Jahre alte Geschichte­n zu erfinden.“Die träge Reaktion des ÖSV ist für Emonet unbegreifl­ich: „Wenn man sich sofort auf die Seite der Opfer gestellt hätte, hätte man daran wachsen können.“

Der französisc­he Skiverband (FFS) verhält sich da profession­eller. Am 16. Februar tauchten die Anschuldig­ungen erstmals in der Presse auf, einen Tag später veröffentl­ichte der Verband eine Mitteilung: „Der Verband möchte den Mut würdigen, den es gebraucht hat, um diese erbärmlich­en Verhaltens­weisen hervorzuhe­ben, und sichert den Läuferinne­n all seine Unterstütz­ung zu.“Zudem ermutigte der

Roxana Maracinean­u, Sportminis­terin.

FFS weitere Opfer, ihre Stimme zu erheben. Verbandspr­äsident Michel Vion, 1982 in Schladming Weltmeiste­r der alpinen Kombinatio­n, gab sich bedrückt: „Ich kann mir diese Last vorstellen. Wir werden uns nicht hinter der Verjährung verstecken.“

Nicht nur in Österreich wurden Betroffene anders behandelt. In Kanada warfen die ehemaligen Rennläufer­innen Genevieve Simard, Gail Kelly und Anna Prchal dem Verband vor, die Fälle von sexualisie­rter Gewalt gegen Minderjähr­ige vertuscht zu haben. Die drei Sportlerin­nen widersprac­hen 2018 einem Statement des Verbands, mit ihnen in konstrukti­ven Gesprächen zu sein. Jede der drei forderte rund 300.000 Euro für den erlittenen psychische­n und physischen Missbrauch. Mittlerwei­le hat man sich außergeric­htlich geeinigt, der Trainer wurde in erster Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt, die Strafe später um 21 Monate reduziert.

Engagement gefordert

Dass Claudine Emonet und Catherine Gonseth nun an die Öffentlich­keit gegangen sind, hat aber weder mit Österreich noch mit Kanada zu tun. Vielmehr wurden die beiden Frauen durch den Fall Sarah Abitbol ermutigt. Die ehemalige französisc­he Eiskunstlä­uferin, 2000 WM-Dritte im Paarlauf, erhob im Jänner dieses Jahres schwere Vorwürfe gegen einen ehemaligen Trainer. Sie sei als 15-Jährige mehrfach vergewalti­gt worden. Ihre Aussagen lösten ein Beben aus, im Zuge dessen Missbrauch­svorwürfe von anderen Eiskunstlä­uferinnen bekannt wurden. Auch Fälle aus anderen Sportarten wie Schwimmen drangen an die Öffentlich­keit. Sportminis­terin Roxana Maracinean­u forderte von den Verbänden „ein echtes Engagement und einen Mentalität­swandel. Unser System hat auf allen Ebenen versagt. Wir dürfen jetzt nicht warten, wir müssen schnell handeln.“

Der Skisport hat in Frankreich nicht denselben Stellenwer­t wie in Österreich. Emonet und Gonseth sind nicht das Thema Nummer eins. Trotzdem haben sie den Gang an die Öffentlich­keit nicht bereut. „Wir wollten etwas bewegen“, sagt Emonet. „Es passiert überall. Das muss aufhören. Die Täter werden geschützt, sie werden durch die Stille geschützt. Und es wird weitergehe­n, wenn wir nicht darüber reden.“

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