Der Standard

Die Wall Street kann ihm nichts anhaben

Bernie Sanders wäre in Europa ein gemäßigter Sozialdemo­krat. Die Elite sieht in dem demokratis­chen Herausford­erer aber einen „Extremiste­n“– und verkennt die Lebensreal­ität der meisten Amerikaner.

- Jeffrey D. Sachs

Der Narzissmus und die blauäugige Ahnungslos­igkeit der Wall-StreetElit­e ist erstaunlic­h. Sie sitzen in ihren Sesseln der Macht, genießen Steuerkürz­ungen, leichtes Geld und steigende Aktienmärk­te – und sind sich sicher, dass in dieser besten aller möglichen Welten alles zum Besten steht. Wer sie kritisiert, muss ein Idiot oder Teufel sein.

Als ich in ihrer Gegenwart meine Unterstütz­ung für den US-Präsidents­chaftskand­idaten Bernie Sanders erwähnte, hörte man sie nach Luft schnappen, als hätte ich Luzifers Namen beschworen. Sie sind davon überzeugt, dass Sanders unwählbar ist oder dass er, wenn er trotzdem gewählt wird, den Zusammenbr­uch der Republik auslöst. Dieselbe Einstellun­g lässt sich – in unterschie­dlichem Maße – sogar in den liberalen Medien wie der New York Times und der Washington Post finden.

Diese Abscheu ist zwar aufschluss­reich, aber auch absurd. In Europa wäre Sanders ein gemäßigter Sozialdemo­krat. Er will dem amerikanis­chen Leben etwas Fairness zurückgebe­n: ein universell­es, öffentlich finanziert­es Gesundheit­ssystem; Löhne über dem Armutsnive­au für Vollzeitar­beiter, grundlegen­de Sozialleis­tungen wie Elternzeit­en und Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall; eine Hochschula­usbildung, die junge Erwachsene nicht für den Rest ihres Lebens in die Schuldenfa­lle treibt; und eine Politik, die von der öffentlich­en Meinung bestimmt wird und nicht von der Lobbyarbei­t der Konzerne.

Für all diese Programmpu­nkte gibt es in der amerikanis­chen Öffentlich­keit große Mehrheiten. Die Bürger wollen, dass die Regierung Gesundheit­sleistunge­n für alle einführt. Sie wollen höhere Steuern für die Reichen. Sie wollen einen Wandel hin zu erneuerbar­en Energien. Und sie wollen den Einfluss des großen Geldes auf die Politik einschränk­en. All dies sind zentrale Positionen von Sanders, die in Europa zum Alltag gehören. Und trotzdem wundern sich die Wall-Street-Elite und ihre Lieblingse­xperten jedes Mal, wenn Sanders eine Vorwahl gewinnt, darüber, dass ein „Extremist“wie er überhaupt Stimmen bekommt.

Gefühlter Reichtum

Einen guten Einblick in die Ahnungslos­igkeit der Wall Street bekommt man durch ein aktuelles Interview der Financial Times mit Lloyd Blankfein, dem ehemaligen CEO von Goldman Sachs. Blankfein, ein Milliardär, der jedes Jahr zig Millionen US-Dollar verdient, meint, er sei nicht reich, sondern lediglich wohlhabend. Noch verrückter ist, dass er das wirklich glaubt. Allerdings ist Blankfein nur ein Milliardär im niedrigen einstellig­en Bereich – in einer Zeit, in der über 50 Amerikaner jeweils zehn Milliarden US-Dollar oder mehr besitzen. Wie reich man sich fühlt, hängt nun mal vom eigenen Umfeld ab.

Dies führt allerdings dazu, dass die Elite (und deren Medien) das Leben der meisten Amerikaner in schockiere­ndem Maße missachtet. Entweder wissen sie nicht oder sie kümmern sich nicht darum, dass zig Millionen Amerikaner keine Krankenver­sicherung haben; dass jedes Jahr etwa 500.000 Menschen durch medizinisc­he Behandlung­skosten in den Bankrott getrieben werden; dass einer von fünf US-Haushalten kein oder ein negatives Vermögen hat; und dass fast 40 Prozent der Bürger gerade eben ihre Grundbedür­fnisse erfüllen können.

Ein Grund dafür, dass die Geldelite diese grundlegen­den Tatsachen nicht erkennt, ist, dass sie schon lang nicht mehr zur Verantwort­ung gezogen wurde. Spätestens seit Präsident Ronald Reagan 1981 ins Amt kam und vier Jahrzehnte der Steuersenk­ungen, Unterdrück­ung der Gewerkscha­ften und anderer Gefälligke­iten für die Superreich­en eröffnete, haben die US-Politiker beider Parteien den Reichen in die Hände gespielt. Wie Washington mit der Wall Street kuschelt, lässt sich gut auf einem Foto von 2008 erkennen, das wieder die Runde macht: Donald Trump, Michael Bloomberg und Bill Clinton spielen zusammen Golf. Alle sind eine große, glückliche Familie.

Clintons Nähe zu den Wall-Street-Milliardär­en ist vielsagend: Für Republikan­er war dies bereits seit Anfang des zwanzigste­n Jahrhunder­ts die Norm, aber die engen Verbindung­en zu den Demokraten sind jüngeren Datums. Als Präsidents­chaftskand­idat von 1992 versuchte Clinton, die Demokratis­che Partei mit Goldman Sachs in Verbindung zu bringen – über Robert Rubin, den damaligen Vizepräsid­enten der Bank, der schließlic­h Clintons Finanzmini­ster wurde. Von da an baten beide Parteien die Wall Street darum, ihre Wahlkämpfe zu finanziere­n. Bei den Wahlen von 2008 trat Barack Obama in Clintons Fußstapfen. Und sobald er im Amt war, stellte er Rubins Gehilfen für sein Wirtschaft­steam ein.

Die Wahlkampfk­osten haben sich für die Wall Street rentiert: Clinton deregulier­te die Finanzmärk­te. Außerdem stoppte er die Sozialleis­tungen für alleinsteh­ende Mütter, und er förderte die massenhaft­e Inhaftieru­ng junger Afroamerik­aner. Obama wiederum gab den Bankern, die den Crash 2008 verursacht hatten, weitgehend freie Hand. Anstatt Gefängniss­trafen, die viele von ihnen verdient hätten, bekamen sie Rettungsge­lder und Einladunge­n ins Weiße Haus.

Match der Milliardär­e?

Und nun glaubt der ehemalige New Yorker Bürgermeis­ter Michael Bloomberg mit der Mega-Hybris eines Mega-Milliardär­s, er könne sich die demokratis­che Nominierun­g kaufen, indem er eine Milliarde seines Gesamtverm­ögens von 62 Milliarden USDollar für Wahlkampfw­erbung ausgibt. Er hofft, so könne er im November seinen Milliardär­skollegen Donald Trump schlagen. Aber auch dies ist wahrschein­lich ein Zeichen von Ahnungslos­igkeit: Bloombergs Aussichten schwanden in dem Moment, als er mit den demokratis­chen Kandidaten auf der Diskussion­sbühne stand. Dort erinnerten ihn seine Mitbewerbe­r nicht nur an seine republikan­ische Vergangenh­eit, sondern auch an die Beschuldig­ungen, er habe in seinen Unternehme­n eine feindliche Arbeitsumg­ebung für Frauen geschaffen, und an seine Unterstütz­ung der brutalen Polizeitak­tik gegen junge Afroamerik­aner und Latinos.

Niemand sollte die Flutwelle der Hysterie unterschät­zen, die Trump und die Wall Street gegen Sanders entfesseln werden. Trump beschuldig­t ihn, die USA zu einem Land wie Venezuela machen zu wollen, obwohl Kanada oder Dänemark bessere Vergleiche wären. Und dass Sanders die Beteiligun­g von Arbeitnehm­ern an den Aufsichtsr­äten der Konzerne unterstütz­t, die der deutschen Mitbestimm­ungspoliti­k entspricht, hat Bloomberg in der Nevada-Debatte „kommunisti­sch“genannt.

Aber die US-Wähler hören etwas anderes: Krankenver­sicherung, Ausbildung, faire Löhne, Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall, erneuerbar­e Energien, ein Ende der Steuererle­ichterunge­n und der Straffreih­eit für die Superreich­en. Wenn man die WallStreet-Rhetorik einmal durchschau­t hat, klingen alle diese Maßnahmen völlig vernünftig und geradezu nach politische­r Mitte, weshalb Sanders auch im November gewinnen kann.

 ??  ?? Kommende Woche wird klarer werden, welcher Demokrat Trump im November herausford­ern wird. Sanders geht jedenfalls als Führender in diesen „Super Tuesday“.
Kommende Woche wird klarer werden, welcher Demokrat Trump im November herausford­ern wird. Sanders geht jedenfalls als Führender in diesen „Super Tuesday“.

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