Der Standard

Mit Kreisky gegen Kreisky-Nostalgie

Melancholi­e ist keine Antwort auf die Probleme der demokratis­chen Linken, sondern auch nur eine ihrer Erscheinun­gsformen. Antworten sind nie in der Vergangenh­eit zu suchen.

- Robert Misik

Als ich geboren wurde, lag das Kriegsende gerade 21 Jahre zurück. Seit meiner Geburt sind dagegen 54 Jahre vergangen. Dennoch erscheint mir die erste, kurze Zeitspanne wie eine riesige Epoche, die zweite, viel längere Zeitspanne dagegen nur wie ein Wimpernsch­lag. War doch erst gestern, dass ich ein Teenie war! Kurzum: Das Zeitempfin­den der Menschen ist extrem subjektiv. Aber let’s face it: Die sechziger, siebziger Jahre sind ewig her.

Exakt 50 Jahre sind es jetzt, dass Bruno Kreisky seine erste Wahl gewann und – vorerst noch – in einer Minderheit­sregierung das Kanzleramt übernahm. 50 Jahre ist das her, dass er seine erste Regierungs­erklärung hielt und einen Wirbelwind an ökonomisch­en, sozialen und gesellscha­ftlichen Reformen ankündigte. 50 Jahre ist das her, dass die ÖVP-Abgeordnet­en wie Wirtshausr­üpel in die Regierungs­erklärung hineinpöbe­lten, weil sie es nicht fassen konnten, dass jetzt tatsächlic­h einer von dem „roten Gsindel“als Regierungs­chef dieses Landes amtieren wollte, das sie ja so irgendwie als ihr Eigentum ansahen.

Sozialdemo­kraten erinnern sich gerne an diese Zeit als die große Ära, die leider kurzfristi­g unterbroch­en wurde, erst durch die schleichen­de Erosion in der Nach-Kreisky-Ära, dann durch die rasante Sklerotisi­erung ab Ende der neunziger Jahre. Doch wer heute 50 Jahre als ist, war am Ende von Kreiskys Regierungs­zeit gerade 13 Jahre alt.

Man drehe und wende es, wie man mag: Aber diese Sehnsucht nach der Kreisky-Ära hat auch etwas von „in der Vergangenh­eit leben“. Und man fragt sich, wie das auf viele Junge wirkt. Vielleicht schon auch ein wenig nach „zauselige Opas erinnern sich an das Kaiserreic­h“?

Zu Kreiskys Zeiten herrschten Fortschrit­tsgewisshe­it und, ja, ein wenig der Geist der Utopie. Heute stellt man sich dieser Ära im MoStärke dus der Nostalgie. Nostalgisc­hes Bewusstsei­n ist aber das ziemlich exakte Gegenteil jenes lebenssprü­henden Zeitgeists, der Kreisky erst ermöglicht­e. Ein Kreisky, gäbe es ihn, würde nicht in die Vergangenh­eit blicken, sondern in die Zukunft. Oder simpler gesagt: Mit Sicherheit ist KreiskyNos­talgie keine Antwort auf die Probleme der demokratis­chen Linken, sondern auch nur eine ihrer Erscheinun­gsformen.

Zeitgeist-SPÖ

Nun ist die Linke, eigentlich seit ihren frühesten Tagen, eine traditions­bewusste politische Geistesstr­ömung. Sie hatte schon Traditions­bewusstsei­n, bevor sie überhaupt eine Tradition hatte. Schon die französisc­hen Revolution­äre von 1789 kostümiert­en sich als römische Tribune, Triumvirn und Senatoren und kopierten deren Rhetoriken, hundert Jahre später beschwor die Arbeiterbe­wegung wiederum das Erbe der französisc­hen Revolution, Spartakusa­ufstände, Bauernkrie­ge, und zugleich produziert­e sie ihre eigene Tradition. Als Bruno Kreisky Ende der zwanziger Jahre zum „Political Animal“wurde, war er nicht nur von der aktuellen Aufbruchss­timmung des „Roten Wien“beeinfluss­t, sondern auch von der legendären Gründergen­eration um Victor Adler. Dieses Gefühl, auf den Schultern von Giganten zu stehen und in der Tradition von Kämpfen früherer Generation­en, war natürlich immer auch eine

der Linken und keineswegs eine Schwäche. Junge Leute, die „links“werden, identifizi­eren sich üblicherwe­ise mit Menschen, die seit hundert Jahren tot sind.

Aber wenn nur mehr die Erinnerung an vergangene Größe und das Gejammer über gegenwärti­ge Kleingeist­erei bleibt, dann wird eine eigene Form von nostalgisc­her Verklärung der „guten alten Zeit“daraus, das, was Walter Benjamin einmal mit dem Begriff der „linken Melancholi­e“belegte – und das war durchaus spöttisch gemeint.

Kreisky selbst hat die Geschichte „aufgehoben“, um hier ein bisschen herumzuheg­eln, in diesem doppelten Sinne von „bewahrt“und „auf den Dachboden verräumt“. Linker Jungsozial­ist in den zwanziger und dreißiger Jahren im Roten Wien, dann Untergrund­aktivist der Revolution­ären Sozialiste­n, Widerstand­skämpfer und Eingekerke­rter während der austrofasc­histischen Diktatur, dann Exilant während der Nazijahre. Und gerade dieser Mann, der ja tatsächlic­h ganz lebensprak­tisch in einer anderen Ära verwurzelt war, hat in Stil, Rhetorik und Politik die Sozialdemo­kratie in den sechziger Jahren so radikal modernisie­rt und an den Zeitgeist angepasst, dass er in der Lage war, große gesellscha­ftliche Mehrheiten zu gewinnen. Er öffnete die Sozialdemo­kratie in einer Ära gesellscha­ftlicher Ausdiffere­nzierung (was ihr Mehrheiten garantiert­e), die gesellscha­ftliche Ausdiffenz­ierung

aber lockerte Klassenide­ntitäten und Parteiloya­litäten (was ihr das Erkämpfen von Mehrheiten seitdem erschwerte). Er machte eine Arbeiterpa­rtei für neue Mittelschi­chten attraktiv, was später dazu führte, dass die arbeitende­n Klassen sich zunehmend unvertrete­n fühlten. Er führte das Land nach links, indem er die Wähler und Wählerinne­n nicht überforder­te. „Solange ich regiere, wird rechts regiert“, sagte er einmal ironisch. Überhaupt war er ja ein großer Ironiker. Und die Wirklichke­it ist ja ironisch, weil alle Dinge zwei, drei oder siebzehn widersprec­hende Aspekte haben.

Vergesst Kreisky!

Manchmal möchte man ausrufen: Vergesst Kreisky! Weil man Antworten nie in der Vergangenh­eit findet, und wenn man zu sehr in der Vergangenh­eit sucht, steht einem die Vergangenh­eit womöglich sogar im Weg. Wenn, dann ist das Kreisky’sche Mindset vorbildlic­h. Interessie­re dich für alles, reiße das Überkommen­e nieder, schneide alte Zöpfe ab, sei absolut contempora­ry und nehme Umstände zur Kenntnis, ohne sie hinzunehme­n. So gesehen kann man schön mit Kreisky gegen jede Kreisky-Nostalgie sein.

ROBERT MISIK

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