Zu Doktor Freud in Sachen Österreich
„Diese Erinnerungen sollten Pflichtlektüre sein“, schreibt der Schriftsteller Daniel Kehlmann über „Das Wunder des Überlebens“von Ernst Lothar, der ein Kind des Habsburgerreichs war – und es bis zu seinem Ende blieb. Das Buch war lange vergriffen, jetzt wird es neu aufgelegt.
Die Schlüsselszene dieses Buches findet schon früh statt. Der Erste Weltkrieg ist vorüber, die Doppelmonarchie hat aufgehört zu existieren, und Ernst Lothar ist verzweifelt: „Denn was da unterging, war eine Macht und Herrlichkeit ohne Beispiel gewesen.“
Das meint er ernst, und sein Leid ist so groß, dass er meint, damit nicht umgehen zu können. Es sprengt die Grenzen des normalen Patriotismus, sein Ausmaß ist pathologisch. Das merkt er selbst, und deshalb lässt er sich einen Termin bei Doktor Freud geben. Was dann folgt, ist eine der merkwürdigsten Schilderungen der österreichischen Memoirenliteratur. Ein erschütterter Patriot bittet Sigmund Freud um Hilfe dabei, mit dem Verlust der k. u. k. Monarchie umzugehen. „Wie kann man ohne das Land leben, für das man gelebt hat?“
Freud antwortet mit einem Hinweis auf Lothars verstorbene Mutter. Wer erwachsen sei, verwaise nun einmal früher oder später.
Aber Lothar lässt sich nicht besänftigen. „Es ist das einzige Land, wo ich leben kann!“
„In wie vielen Ländern haben Sie schon gelebt?“, fragt Freud und kommt auch damit nicht weiter. Lothars Patriotismus ist vernünftigen Einwänden nicht zugänglich. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Freud mit der Erwähnung von Lothars Mutter ins Herz des Problems getroffen hat. Zu Beginn von Das
Wunder des Überlebens hat Ernst Lothar seine einsame und triste Kindheit als „spätgeborenes Kind alternder Eltern“geschildert, zu denen er keine innige Beziehung hatte. Tatsächlich scheint das Heimatland im Seelenleben Lothars schon früh eine Art Mutterstelle eingenommen zu haben, von der zu emanzipieren er sich lebenslang weigerte.
Hysterische Liebe zur Heimat
Ernst Lothar war zunächst Jurist, dann Theaterkritiker, dann ein erfolgreicher Regisseur, dann auch Romanautor und Direktor des Theaters in der Josefstadt. Das
Wunder des Überlebens ist die Autobiografie eines klugen, nachdenklichen und allem Anschein nach überaus liebenswürdigen Mannes, der nur in einem einzigen Aspekt emotional labil erscheint, und das ist seine regelrecht hysterische Liebe zur Heimat. Stolz und verlegen zugleich berichtet er, dass er einmal Max Reinhardts Angebot, dessen Berliner Bühnen zu leiten, ablehnen musste, weil das nun einmal bedeutet hätte, dass er anderswo als in Österreich hätte leben müssen. Später, nachdem das geliebte Land ihn schimpflich vertrieben hat, stürzt ihn der Treueeid, den er als neuer Bürger auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika leisten muss, in drastische Gewissenskonflikte, und obgleich er gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin Adrienne Gessner, in den USA eine stabile Existenz aufgebaut hat – weiß Gott keine geringe Leistung! –, ergreift er die erste sich bietende Gelegenheit, um nach Österreich zurückzukehren. Er nimmt sich vor, im Nachtzug von Paris nach Wien „von der Minute, da ich in den Zug stieg, bis zu der Ankunftsminute nichts zu denken als: Ich fahre nach Hause!“Das ist so rührend wie nachvollziehbar, aber wie bringt man es zusammen mit dem Zorn, mit welchem er nur wenig später auf einer Abendgesellschaft im zerstörten Wien folgende Frage aufwirft:
„Würde zum Beispiel der Professor an unserem Tisch, wenn er sich dafür interessierte – er interessiere sich aber nicht, auch diese Frage sei rein akademisch –, eine Berufung erhalten?
Er würde sie nicht erhalten, sagte ich. Der Antisemitismus – und damals war die Wiederkehr der Nazi-Schmierereien noch nirgends in Erscheinung getreten – herrsche nach wie vor. Dass sechs Mil