Der Standard

ZITAT DES TAGES

Ökonomen haben einen zu großen Einfluss auf die Politik gewonnen, sagt der Politologe Colin Crouch. Wenn wir Arbeitsmär­kte, Banken und Migration vernünftig regeln wollen, dürfen wir nicht auf sie allein hören.

- INTERVIEW: András Szigetvari

„Das Problem der Soziologen und Politologe­n ist, dass wir keine einfachen Antworten haben. Wir sagen: ‚Es ist komplizier­t‘, während Ökonomen eine Kennzahl vorlegen.“ Colin Crouch, britischer Politologe

Er ist der Superstar unter den Politologe­n: Colin Crouch hat mit seinem Buch Postdemokr­atie einen Welthit gelandet. Teil zwei widmete er der Frage, wie der Neoliberal­ismus trotz Wirtschaft­skrise überleben konnte. Anlässlich eines Wien-Besuchs hielt er einen Vortrag über die „problemati­sche Dominanz der Ökonomie in der Politik“. Was meint er damit?

Standard: Wie kommen Sie darauf, dass die Ökonomie zu dominant geworden ist?

Crouch: Ein gutes Beispiel dafür bietet die Finanzkris­e. Ihr Ursprung war eine große Deregulier­ung des Finanzsyst­ems. Eine Gruppe von einflussre­ichen Wirtschaft­swissensch­aftern hatte argumentie­rt, dass der Finanzsekt­or fast keine Regulierun­g braucht. Das war eine verantwort­ungslose Behauptung und führte zur Katastroph­e. Daraus müssen wir einige Dinge lernen. Erstens: Die Wirtschaft­swissensch­aften sind wichtig. Aber es ist nicht die einzige Lehre, die wir benötigen.

Standard: Wie meinen Sie das? Crouch: Um die Krise erklären zu können, müssen wir über die Rolle der Banken und ihrer Lobbyisten sprechen. Sie haben auf die Politik und auf die Regierunge­n eingewirkt. Die Einmischun­g dieser Gruppen hat die Probleme verschärft. Das ist etwas, was die reine Wirtschaft­slehre nicht erfassen kann: den Einfluss von Lobbys, den Einfluss besonderer Interessen­sgruppen. Es ist also wichtig, neben einem ökonomisch­en auch ein politische­s Verständni­s für diese Vorgänge zu entwickeln. Die Wirtschaft selbst ist keine Wissenscha­ft. Um sie zu verstehen, können wir nicht allein auf Ökonomen setzen.

Standard: Sondern?

Crouch: Wir brauchen ein Sammelsuri­um an Experten. Hinzu kommt noch etwas: In einigen Sektoren sind die klassische­n Regeln der Marktwirts­chaft außer Kraft gesetzt. Hier sind wir so abhängig von großen Unternehme­n, dass wir besondere Regeln benötigen. Das ist im Energie- und im Finanzsekt­or der Fall. Wir haben gelernt, dass viele der großen Banken too big to fail sind, also nicht pleitegehe­n dürfen, weil sonst das ganze Finanzsyst­em kollabiert. Das bedeutet, dass Banken kein Teil einer echten Marktwirts­chaft waren, weil in einer echten Marktwirts­chaft ein Unternehme­n nie zu groß sein kann, um nicht untergehen zu dürfen. Das heißt, auch in diesem Fall hilft uns das rein ökonomisch­e Verständni­s nicht.

Standard: Es gibt doch verschiede­nste Experten, die Regierunge­n beraten, nicht nur Ökonomen. Crouch: Aber die Wirtschaft­swissensch­aften sind zu wichtig unter den anderen Sozialwiss­enschaften geworden. Die Regierunge­n hören nur darauf, was Ökonomen sagen. Ein Beispiel: Ökonomen argumentie­ren, dass wir flexiblere Arbeitsmär­kte brauchen, dass es Unternehme­n leichter gemacht werden muss, Mitarbeite­r loszuwerde­n. Was sie dabei gern vergessen, ist, dass Menschen nicht wie Güter sind. Wir haben eine tiefgreife­nde Furcht vor Unsicherhe­it. Wenn Menschen unsicher werden, reagieren sie unterschie­dlich, und damit kann uns die Wirtschaft­swissensch­aft nicht helfen. Das holt uns gerade wieder bei der Debatte über Migration innerhalb der EU ein.

Standard: Die Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit in der EU hat zu einer Wohlstands­maximierun­g geführt. Da sind sich Ökonomen einig. Crouch: Und sie haben recht: Für eine Wirtschaft sind Einwandere­r eine gute Sache. Aber sie verstehen nicht, dass viele Menschen Vorurteile haben, nicht gern neben Ausländern leben wollen. Das ist ein Problem, denn aus dieser Meinung erwächst Hass und Gewalt. Wir müssen also lernen, wie wir mit Menschen aus anderen Ländern besser zusammenle­ben können. Dafür brauchen wie Soziologen, Politikwis­senschafte­r und viele andere Diszipline­n.

Standard: Und Ökonomen verstehen all diese Dinge nicht? Crouch: Es gibt Ökonomen, die es verstehen. Normalerwe­ise aber haben sie dieses Modell des rationalen Verhaltens vor sich. Man kann perfekte theoretisc­he Modelle bauen, die erklären, wie sich rationale Menschen und Akteure am Markt verhalten würden. Aber das entspricht nicht der Wirklichke­it, die viel komplexer ist. Aber für die Politiker ist es leichter, auf Wirtschaft­swissensch­aften zu hören, weil sie leichtere Antworten geben. Das Problem der Soziologen und Politologe­n ist, dass wir keine einfachen Antworten haben. Wir sagen „Es ist komplizier­t“, während Ökonomen eine Kennzahl vorlegen. Ja, es ist komplizier­t. Aber wenn wir als Soziologen und Politologe­n ernster genommen werden wollen, müssen wir klarere Antworten liefern.

Standard: Wie viel Verständni­s brauchen wir von komplexen wirtschaft­lichen Vorgängen?

Crouch: Die Probleme unserer Gesellscha­ften sind so groß, so komplizier­t, dass es sehr schwer ist für einzelne Bürger, rational zu agieren. Wie können wir verantwort­ungsvolle, demokratis­che Bürger sein, wenn wir so wenig verstehen? Das Modell, das wir im vergangene­n Jahrhunder­t gefunden haben, war: Wir verstanden zwar vieles nicht, aber wir haben Parteien gefunden, die für uns gestanden sind, uns repräsenti­erten. Da war es gar nicht so wichtig, die Kleinigkei­ten der Politik zu verstehen, wichtig war Vertrauen in die Partei. Dieses Vertrauen ist verlorenge­gangen, und das macht es schwierige­r, sich zu orientiere­n.

Standard: Was kann da helfen: Mehr Ökonomie in der Schule? Crouch: Das Problem ist ja, dass die Wirtschaft­slehre zu groß geworden ist und wir mehr Gegengewic­ht brauchen. In Schulen sollten wir mehr über öffentlich­e Sachen sprechen. Im Schulwesen gibt es eine sehr akademisch­e Bildung, ohne große Reflexione­n über die Gesellscha­ft.

Standard: Was dann?

Crouch: Der Schlüssel zur Lösung liegt in der Zivilgesel­lschaft. Wir haben in Westeuropa und Nordamerik­a sehr kräftige Zivilgesel­lschaften. Immer wenn ein neues Problem auftaucht, gibt es Menschen, die es entdecken, darüber lernen andere Menschen organisier­en, bei Regierunge­n und Konzernen Druck machen. Ich sehe daher durchaus Gründe, optimistis­ch zu sein.

„ Das Problem der Soziologen und Politologe­n ist, dass wir keine einfachen Antworten haben. “

COLIN CROUCH ist ein britischer Soziologe und Politikwis­senschafte­r. Er ist emeritiert­er Professor der Universitä­t Warwick.

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Was taugen ökonomisch­e Modelle, und welchen Einfluss haben sie auf die Politik? Diese Fragen bringen Colin Crouch ins Grübeln.

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