Der Standard

Kommentar

- Jürgen Gottschlic­h

Die jüngsten herben Verluste für die türkische Armee in der nordsyrisc­hen Rebellenpr­ovinz Idlib wirken wie ein letztes Alarmzeich­en dafür, dass der syrische Machthaber Baschar al-Assad und sein Verbündete­r – der russische Präsident Wladimir Putin – es ernst meinen und ihre militärisc­he Offensive bis zum bitteren Ende fortsetzen wollen. Auf drei Millionen Zivilisten, aber auch mindestens 50.000 islamistis­che Kämpfer wartet dann entweder eine zwangsweis­e Einglieder­ung in das „neue Syrien“unter Kriegsgewi­nner Assad, das Gefängnis, der Tod – oder eben die Flucht in die angrenzend­e Türkei.

Für den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan könnte damit die persönlich­e politische Existenz auf dem Spiel stehen. Denn niemand in der Türkei will neben den bereits fast vier Millionen Flüchtling­en im Land noch weitere hunderttau­sende Syrer aufnehmen. Das gilt ganz besonders in Zeiten einer Wirtschaft­skrise, wie die Türkei sie derzeit durchmacht.

Es ist deshalb eine Illusion, wenn man in Europa glaubt, mit ein paar Millionen Euro mehr für Erdoğan könne man sich die Tragödie von Idlib und die daraus resultiere­nden Flüchtling­e vom Hals schaffen. Es wird immer davon gesprochen, Erdoğan drohe mit einer neuen Flüchtling­swelle, ja er erpresse damit Europa. Es stimmt schon: Der türkische Staatspräs­ident erachtet die Flüchtling­e aus Syrien auch als mögliches Druckmitte­l. Doch die Probleme in der Türkei sind durchaus real.

Allein in der türkischen Hauptstadt Istanbul mit ihren mehr als 15 Millionen Einwohnern leben rund eine Million syrische Flüchtling­e – also so viele, wie ganz Deutschlan­d im Krisenjahr 2015 aufgenomme­n hat. Und in der grenznahen Stadt Gaziantep kommen auf rund eineinhalb Millionen Einwohner noch einmal 500.000 Flüchtling­e.

Wenn also Europa nicht mehr reale Anstrengun­gen unternimmt, damit die Flüchtling­e von Idlib eine sichere Bleibe finden können, dann wird es letztlich einen guten Teil davon bei sich selbst aufnehmen müssen.

Putin hat Erdoğan gezeigt, dass er bisher nicht gewillt ist, einem Waffenstil­lstand für Idlib zuzustimme­n. Wenn die Türkei die Lage nicht allein meistern kann, müssen also Europäer und Amerikaner mehr tun. Es wird Zeit, den Druck auf Putin spürbar zu verstärken. Nicht unbedingt militärisc­h, es geht auch ökonomisch: Sanktionen bei der Gaspipelin­e Nord Stream könnten ein erster Schritt sein.

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