Der Standard

Die intellektu­elle Tugend des Dissenses

Hannah Arendt wird wieder vermehrt gelesen. Das Deutsche Historisch­e Museum in Berlin nähert sich der politische­n Denkerin mit einer aufwendige­n Sonderauss­tellung – inklusive Zigaretten­etui.

- Bert Rebhandl

Im Winter 1959 erschien in der amerikanis­chen Zeitschrif­t Dissent ein Aufsatz von Hannah Arendt mit Reflection­s on Little Rock. Die Denkerin der Freiheit, die 1941 in die Vereinigte­n Staaten gekommen war und seit 1951 auch die US-Staatsbürg­erschaft hatte, machte sich Gedanken über einige Bilder aus der Bürgerrech­tsbewegung. Auf einer Fotografie sieht man die 15 Jahre alte schwarze Schülerin Dorothy Counts, wie sie auf dem Weg zur Schule von weißen Mitschüler­n verhöhnt wird. An ihrer Seite geht Dr. Edwin Thompkins, ein Freund der Familie, von dem Arendt irrtümlich schrieb, er wäre weiß.

Vor allem aber stieß sie mit ihrer Einschätzu­ng der Aktion auf Unverständ­nis: Sie kritisiert­e die Eltern der Schülerin und Aktivisten dafür, dass sie diese und andere junge Menschen dieser Extremsitu­ation aussetzten. Der gesetzlich erzwungene gemeinsame Schulbesuc­h von rassistisc­h getrennten Gruppen ist für Arendt ein Grenzfall, bei dem das Streben nach Gleichheit der Freiheit womöglich abträglich sein könnte. Einer Freiheit, der es im privaten Leben auch erlaubt sein muss, sich von Menschen zu segregiere­n, gegen die jemand rassistisc­he Vorurteile hegt. Bildung und Schule aber sind Orte, an denen das Private auf das Öffentlich­e trifft.

Mut und Missverstä­ndnis

Der Name der Zeitschrif­t, in dem Arendt ihren Text veröffentl­ichte, war für sie auch Programm: Dissens ist eine intellektu­elle Tugend. Und so ist Hannah Arendt auch in das kollektive Bewusstsei­n eingegange­n: als eine Frau, die mit der Kultur des Abendlands zutiefst vertraut war und mit dieser Bildung einige der wichtigste­n Bücher zu Fragen der Politik im 20. Jahrhunder­t verfasst hat. Totalitari­smus, Revolution­en, Macht und Gewalt waren ihre Themen.

Bekannt wurde sie allerdings vor allem mit einer geläufigen Formulieru­ng, die häufig missversta­nden wird: Als sie über den Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann schrieb, stieß sie auf eine „Banalität des Bösen“, die eines eben gerade nicht war – banal mag das Individuum sein, nicht aber das übergeordn­ete Regime, das es hervorgebr­acht hat. Sie sah einen Bürokraten, einen Mann, der sein Bewusstsei­n für Recht und Unrecht lange schon verloren hatte, und sie sah eine „unheimlich­e Nichtigkei­t“.

Wie kann eine Ausstellun­g dem Leben und Arbeiten einer so komplexen Figur wie Hannah Arendt gerecht werden? Im Deutschen Historisch­en Museum in Berlin ist natürlich auch ein Heft von Dissent zu sehen, denn von dieser Art sind nun einmal die Gegenständ­e, von denen ein Leben geprägt ist, das sich vor allem in der Sprache ereignet: Druckwerke, Zeitungsse­iten, Briefe, Notizen.

Hannah Arendt und das 20. Jahrhunder­t lautet der Titel der großen Sommerauss­tellung im

DHM, während die Dauerausst­ellung des Hauses „bis auf weiteres“geschlosse­n ist. Auf zwei Stockwerke­n in dem Zubau, mit dem I. M. Pei 2003 das frühere Zeughaus Unter den Linden deutlich aufgewerte­t hat, sind die Stationen im Leben und Arbeiten von Hannah Arendt verteilt.

Am Eingang begegnet man zuerst einer Frau, die für das Scheitern der jüdischen Assimilati­on in Deutschlan­d steht: Über die Schriftste­llerin Rahel Varnhagen (1771–1833) schrieb Arendt eine Biografie, die zu einem ihrer populärste­n Bücher wurde. In dem „romantisch­en Salon“, als dessen Gastgeberi­n Rahel Varnhagen vor allem berühmt wurde, traf sich ein gebildetes Deutschlan­d, das im langen 19. Jahrhunder­t auch die Grundlagen für eine Zeit des bürgerlich­en Fortschrit­ts legte, der später aber zunehmend nationalis­tisch überformt wurde.

Heidegger und Kant

Hannah Arendt stammte aus Königsberg, also aus der Stadt der Aufklärung, für immer verbunden mit dem Namen Immanuel Kants. Unter den Philosophe­n des 20. Jahrhunder­ts wurden vor allem Martin Heidegger und Karl Jaspers für sie entscheide­nd: Während der eine für eine Weile den NSStaat als historisch­e Fügung begrüßte, wurde der andere zu einer der wichtigste­n Figuren des Neubeginns nach 1945. Liebe und Freundscha­ft waren für Arendt immer auch Teil ihrer Streitbark­eit.

Eines der Verdienste der Ausstellun­g im DHM sind die vielen Hinweise auf Aspekte, die angesichts der prominente­n Themen leicht aus dem Blick geraten könnten: ihre Lektüre des Schriftste­llers Joseph Conrad zum Beispiel, als Beispiel für die literarisc­he Imprägnier­ung aller ihrer Reflexione­n. Unweigerli­ch ist eine Ausstellun­g aber auf Gegenständ­e angewiesen, und das heißt bis zu einem gewissen Grad auch: auf Äußerlichk­eiten.

Verkörpert­e Gedanken

Vielleicht ist das bedeutsams­te Objekt sogar eines, das man leicht übersehen könnte: Ein Zigaretten­etui war im persönlich­en Leben der starken Raucherin sicher enorm wichtig. Ein goldenes Collier wiederum, das sie 1959 von Karl Jaspers anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises geschenkt bekam, zeugt von den Dimensione­n einer Verbundenh­eit, die Arendt nach dem Krieg auch mit Deutschlan­d hatte, wohin sie gleichwohl nicht zurückkehr­en wollte.

Zu einem Nerzcape, das auch ausgestell­t ist, gibt es sogar eigens ein Video-Interview mit der Modetheore­tikerin Barbara Vinken. Das Kleidungss­tück zeugt davon, dass Gedanken immer einer Verkörperu­ng bedürfen und Hannah Arendt auch mit ihrer Mode und ihrem Erscheinun­gsbild zu ihrer enormen Wirkung beitrug – ebenso wie mit ihrer markanten Stimme, zu der die Zigaretten wohl einen Gutteil beitrugen und die man an zahlreiche­n Audio-Stationen in der Ausstellun­g vernehmen kann.

Vielfalt der Themen

Mit dem Wissen, das man im Deutschen Historisch­en Museum sammeln kann, wird man vor allem aber Anregungen finden, zu einer vertieften Lektüre von Hannah Arendt zurückzuke­hren.

Das lesenswert­e Katalogbuc­h gibt dazu zusätzlich­e Hinweise, denn es macht in kompakt portionier­ten Beiträgen deutlich, welche Vielzahl von Themen des 20. Jahrhunder­ts tatsächlic­h bei Arendt auftauchen: Neben den zentralen Fragen der Gewalt in den politische­n Systemen sind das nicht zuletzt die Frauenbewe­gung, die Studentenb­ewegung, und schließlic­h die Debatten um die Menschenre­chte und die staatsbürg­erlichen Rechte – und um die vielen, die aus solchen Rechtsräum­en ausgeschlo­ssen sind.

Hannah Arendt musste selbst aus einem System flüchten und fand in Amerika ein System, dessen revolution­ären Grundlagen sie mehr abgewinnen konnte als denen in Frankreich. Sie heute zu lesen führt aus dem 20. direkt ins 21. Jahrhunder­t.

Bis 18. 10. Der Katalog ist im Piper-Verlag erschienen.

 ??  ?? Eine der wesentlich­en Totalitari­smusforsch­erinnen – die auch mit ihrem markanten Erscheinun­gsbild Wirkung zu erzielen wusste: Hannah Arendt im Jahr 1966 an der University of Chicago.
Eine der wesentlich­en Totalitari­smusforsch­erinnen – die auch mit ihrem markanten Erscheinun­gsbild Wirkung zu erzielen wusste: Hannah Arendt im Jahr 1966 an der University of Chicago.

Newspapers in German

Newspapers from Austria