Der Standard

Verantwort­lich sind wir alle

Im Umgang mit der Corona-Krise hat Kanzler Sebastian Kurz eine neue Phase der Selbstvera­ntwortung ausgerufen. Was heißt das für den Einzelnen?

- ESSAY: Irene Brickner

Welch beispiello­se Ausnahmesi­tuation die Corona-Krise ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Selbstvers­tändlichke­it, mit der manche neu definierte­n Begriffe verwendet werden. „Lockdown“als Synonym für Kontaktver­bote, die sich bei näherer Betrachtun­g als weit weniger durchgreif­end herausstel­lten, als sie kommunizie­rt wurden, waren ein solches Beispiel. „Hochfahren“, um auszudrück­en, dass man sich in Lokalen, Hotels, in der Wirtschaft und im Sport eine Wiederannä­herung an existenzsi­chernde Zustände traut.

Und nun also „Eigen-“oder „Selbstvera­ntwortung“: „Die schrittwei­sen Lockerunge­n und Öffnungen überall in Europa sind nichts anderes als die teilweise Rückübertr­agung der Verantwort­ung vom Staat auf die Bürger“, war vor wenigen Tagen etwa in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen.

Auch in Österreich will man künftig auf das Prinzip Eigenveran­twortung setzen, hoffend, dass es sich die Bevölkerun­g zu Herzen nimmt. Konkret werde es in der nächsten Phase der Pandemiebe­wältigung „weitere Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen“geben, „wenige und klare Regelungen“, sagte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP). Am Freitag wurde er konkret: Ab 15. Juni fällt die Pflicht zum Tragen des MundNasen-Schutzes in der Öffentlich­keit großteils weg, die Sperrstund­e in der Gastronomi­e wird auf ein Uhr ausgeweite­t, das VierPerson­en-Limit pro Tisch fällt.

Die künftige neue Lockerheit sei mit „so viel Hausversta­nd wie nur möglich“anzuwenden, betont Kurz. Das Virus nämlich sei weiterhin gefährlich, Rückschläg­e seien jederzeit möglich: „Solange es keine Impfung oder Medikament gibt, wird uns die Krankheit begleiten. Sie ist nicht weg, sie ist nicht ausgelösch­t, sie ist nach wie vor Realität.“

Hausversta­nd in Seuchenzei­ten

Der Hausversta­nd – es ist wohl kein Zufall, dass sich der kommunikat­ionsgewand­te Kanzler auf eine profane, den alltäglich­en Dingen des Lebens zugewandte Sichtweise bezieht. Tatsächlic­h erscheint etwa – um ein Beispiel zu nennen – die Entscheidu­ng, ob man sein Kind zur Schule schicken soll, wenn im Haushalt ein Mensch lebt, der einer sogenannte­n Risikogrup­pe zuzurechne­n ist, eine rein praktische Erwägung.

Nur: Kann man einen solchen Beschluss als Einzelner wirklich in voller Selbstvera­ntwortung treffen, wenn dessen Grundlagen schwer umstritten sind? Selbst unter Wissenscha­ftern, die sich derzeit nach Kräften bemühen, zu einer validen Einschätzu­ng des Infektions­risikos durch Kinder zu gelangen, aber noch nicht genug Zeit dafür hatten, besteht hier ja weiterhin Unsicherhe­it.

Nein, das kann man nicht, antwortet der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Standard- Gespräch auf diese Frage. Der Mangel an gesicherte­m Wissen widersetze sich einer wirklich selbstvera­ntwortlich­en Entscheidu­ng, wie sich am Schulkinde­rBeispiel zeige. Viele Menschen am Ende der Entscheidu­ngskette fühlten sich mit Recht überforder­t. Als Bürgerinne­n und Bürger würden sie ein Stück alleingela­ssen.

Tatsächlic­h kann man sich im Umgang mit den Corona-Lockerunge­n dem Eindruck fortgesetz­ter Verantwort­ungsdelegi­erung nicht entziehen. Experten wie etwa der deutsche Virologe Christian Drosten weisen mit Recht darauf hin, dass sie lediglich die Grundlagen für Politikere­ntscheidun­gen liefern können. Die Politiker wiederum müssen mit den bestehende­n Unabwägbar­keiten umgehen. Auch wenn ihren Beschlüsse der Input unterschie­dlichster Fachrichtu­ngen zugrunde liegt – die besagten Unabwägbar­keiten geben sie an die Bürgerinne­n und Bürger weiter.

Hier widerspric­ht Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Virologin an der Med-Uni Wien. Alleingela­ssen werde niemand, denn allgemeine Vorgaben existierte­n durchaus: „Die Abstandsre­geln, die Maskenpfli­cht an manchen Orten, die Empfehlung­en für Menschen mit höherem Erkrankung­srisiko“, erklärt sie mit einer Aufzählung. All das seien Regeln, um den Einzelnen etwas an die Hand zu geben, „das ihm ein einigermaß­en normales Leben ermöglicht“. Dabei handle es sich um Handlungsk­ompromisse, denn: „Vom wissenscha­ftlich-epidemiolo­gischen Standpunkt aus betrachtet wäre es am besten, niemand gehe hinaus.“

Den Aufruf zu selbstvera­ntwortlich­em Handeln zur Viruseindä­mmung betrachtet Virologin als große Chance: „Er ermöglicht ein großes Stück Freiheit, denn er setzt auf die Mündigkeit der Bevölkerun­g. Die Alternativ­e dazu ist Zwang. In China gibt es fast keine Infektione­n mehr. Dafür ist die Bewegungsf­reiheit jedes Einzelnen streng geregelt.“

Abkehr vom Nanny-Staat

Auch der Philosoph Liessmann konstatier­t in Österreich derzeit in eine „nicht uninteress­ante Abkehr von bisherigen Tendenzen zum Nanny-Staat“. Richtig frei könne in Corona-Zeiten aber niemand sein. Das Virusrisik­o und dessen Folgen für die Allgemeinh­eit begrenzten den Handlungss­pielraum jedes Einzelnen. Tatsächlic­h setzt eigenveran­twortliche­s Vorgehen voraus, dass eine Person die möglichen Konsequenz­en ihres Tuns im Voraus abwägen kann. Dass sie bereit ist, die Folgen auf sich zu nehmen– so wie das ein freier Unternehme­r unter wirtschaft­sliberalen Umständen tut. „Das aber“, so Liessmann, „funktionie­rt angesichts einer ansteckend­en Krankheit nicht. Dann sind von jedem eingegange­nen Risiko automatisc­h andere Menschen existenzie­ll betroffen.“

Dieser Umstand bindet den Einzelnen in Seuchenzei­ten eng an das Kollektiv. Wer – unter normalen Umständen – etwa Drachen fliegt oder eine andere Risikospor­tart betreibt, kann seine Angehörige­n mittels eines Testaments absichern. Weiteren Menschen schadet er im Fall seines Todes nicht. Ein mit Corona infizierte­r Mensch hingegen, der sich nicht an die Quarantäne­auflagen hält, kann im schlimmste­n Fall dutzende andere anstecken.

Damit gefährdet er im Extremfall sogar das Gesundheit­swesen insgesamt: Eine Erkrankung, die sich laut zuletzt bestärkten Erkenntnis­sen via „Supersprea­der“-Ereignisse­n innerhalb von Clustern explosions­artig verbreiten kann, stellt diesbezügl­ich eine besondere Herausford­erung dar.

Wer eigenveran­twortlich handeln wolle, müsse sich daher seiner Fremdveran­twortung bewusst sein, meint hier der Verfassung­srechtsexp­erte Bernd-Christian Funk. Je lockerer die Regeln zur Beherrschu­ng des Coronaviru­s seien, desto ernster müsse der Einzelne seine Pflichten zur Mitwirkung an der Viruseindä­mmung nehmen. Andernfall­s könne ihm der Vorwurf fahrlässig­en Handelns gemacht werden, im Extremfall auch vor Gericht. „Wer etwa den Verdacht hat, an Corona erkrankt zu sein, sollte sich rasch testen lassen und sich isolieren. Die Einstellun­g ‚Es wird schon nicht dieses Virus sein‘ ist in der aktuellen Lage die verkehrte Reaktion.“

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Foto: Reuters / Lisi Niesner Das Tragen von Masken wird vielerorts von der Pflicht zur Kür. Soll man wirklich auf sie verzichten?

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