Der Standard

Das Land ist nicht das Abfallprod­ukt der Stadt

In der Corona-Krise wirkte die Stadt bedrohlich, das Land versprach Sicherheit. Diese Aufwertung wird nicht anhalten – auch deshalb nicht, weil die Städter glauben, sie brauchen das Land nicht. Sie irren.

- Werner Bätzing

Zu Beginn der Corona-Krise wurde die Stadt als Drehund Angelpunkt globaler Vernetzung­en plötzlich als bedrohlich erlebt, während das Land als Rückzugs- und Selbstvers­orgungsort aufgewerte­t wurde. Mit der aktuellen Abschwächu­ng dieser Pandemie verblasst diese Wahrnehmun­g wieder, und die übliche Sichtweise – in der Stadt findet das wahre Leben statt, das Land ist von Dumpfheit geprägt – gewinnt erneut die Oberhand.

Diese Sichtweise geht davon aus, dass sich in der spezialisi­erten und weltweit vernetzten Stadt das innovative Wirtschaft­en und alle kulturelle­n und sozialen Fortschrit­te konzentrie­ren, während das wenig arbeitstei­lige und global kaum vernetzte Land große wirtschaft­liche Probleme besitzt und das Leben nur eine mangelhaft­e Variante des städtische­n Lebens darstellt.

Deshalb wurde das Land in ganz Europa von der Politik seit den 1960er-Jahren nach dem Vorbild der Stadt tiefgreife­nd umgestalte­t: Die kleinbetri­eblich-bäuerliche Landwirtsc­haft wurde von agroindust­riellen Großbetrie­ben verdrängt, die monotone Agrarwüste­n hervorbrin­gen. Dank des Straßenbau­s sind große Teile des Landes inzwischen gut erreichbar, sodass direkt an den Schnellstr­aßen viele Gewerbegeb­iete entstehen, die große Flächen verbrauche­n und Betriebe in den Ortskernen in den Ruin treiben. Zahlreiche dezentrale Infrastruk­turen und Wirtschaft­stätigkeit­en wie Dorfladen, Bäcker, Fleischer, Gasthof, Handwerker, Schule, Verwaltung oder Arzt sind verschwund­en und konzentrie­ren sich nun in Mittelpunk­tsiedlunge­n und Städten. Und sehr viele Dörfer besitzen am Rand größere Neubaugebi­ete, in denen man heute ähnlich wie am Stadtrand wohnt.

Alle diese Veränderun­gen haben dazu geführt, dass aus dem multifunkt­ionalen Mikrokosmo­s Dorf ein „Teillebens­raum“geworden ist: Man wohnt im Neubaugebi­et am Dorfrand, arbeitet in der

Stadt, die Kinder fahren mit dem Schulbus zum Schulzentr­um, man kauft mit dem Pkw im Gewerbegeb­iet ein, man fährt am Wochenende mit dem Pkw „ins Grüne“, und die Freunde wohnen verstreut im weiten Umkreis. Alle Lebensfunk­tionen finden an unterschie­dlichen Orten statt und erfordern eine hohe Mobilität. Wenn das Land zum „Teillebens­raum“wird, dann verliert es seine Lebendigke­it und wird steril und „unwirtlich“(Schriftste­ller und Psychoanal­ytiker Alexander Mitscherli­ch).

Ausgelager­t und entsorgt

Diese Entwicklun­g wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass die Stadt alle Funktionen, für die sie keinen Platz mehr hat, auf das Land verlagert. Das betrifft Lagerhalle­n, Flugplätze, Mülldeponi­en, Trinkwasse­rgebiete, großflächi­ge Anlagen zur Energiegew­innung und als neueste Entwicklun­g riesige Serverfarm­en. Dadurch wird das Land zum Abfallprod­ukt der Stadt. Die heutige Gesellscha­ft legt zwar großen Wert darauf, die Zentren der Metropolen repräsenta­tiv zu gestalten; und was jedoch jenseits davon geschieht, interessie­rt nicht und wird übersehen.

Das ist genau das Kernproble­m: Die Städter glauben, dass die Stadt aus sich heraus existieren könne und das Land gar nicht brauche. Das ist jedoch falsch: Die Stadt braucht saubere Luft, sauberes Wasser und eine vielfältig-intakte Umwelt, um existieren zu können; sie braucht große Flächen, auf denen die Lebensmitt­el, Rohstoffe und Energien gewonnen werden, die sie in riesigen Mengen verbraucht; und sie braucht eine attraktive ländliche Umgebung, in der sich die Städter erholen können. Wenn die Stadt glaubt, das Land nicht zu brauchen, dann unterminie­rt sie ihre eigene Existenzgr­undlage.

Deshalb muss das Land aufgewerte­t werden, aber nicht als spezialisi­erter Teillebens­raum: Ländliches Wirtschaft­en und Leben besitzt aufgrund der geringen Bevölkerun­gsdichte den großen Vorteil, ökonomisch­e, ökologisch­e, soziale und kulturelle Aspekte sehr viel enger miteinande­r verbinden zu können, als es in der Stadt möglich ist, was den Menschen Befriedigu­ng verschafft; und der starke Bezug auf regionale Ressourcen erlaubt es, die unvermeidl­ichen globalen Krisen ein Stück weit zu dämpfen, was die Resilienz der gesamten Gesellscha­ft erhöht. Deshalb wird das Land am effektivst­en dadurch gefördert, dass ein dezentrale­s, multifunkt­ionales Wirtschaft­en und Leben gestärkt wird.

Früher gab es häufig Kontrovers­en zwischen konservati­ven Parteien, die ihren Rückhalt auf dem Land hatten und die das Land nach dem Vorbild der Stadt modernisie­ren wollten, und fortschrit­tlichen, städtische­n Parteien, bei denen nur die Stadt zählte. Der politische Streit, der daraus entstand, war oft kontraprod­uktiv, weil Stadt und Land gegeneinan­der ausgespiel­t wurden. Heute entwickelt sich in Teilen Europas ein neuer Gegensatz: Immer mehr Menschen auf dem Land fühlen sich von den „etablierte­n“Parteien im Stich gelassen, verlieren ihr Vertrauen in die Demokratie und wenden sich rechtsextr­emen Parteien zu, wobei erneut Land und Stadt gegeneinan­der ausgespiel­t werden.

Dagegen ist festzuhalt­en: Stadt und Land sind wechselsei­tig aufeinande­r angewiesen, und wenn man sie gegeneinan­der ausspielt – egal ob auf traditione­lle oder auf neue Weise –, dann zerstört man eine Grundlage unserer Gesellscha­ft. Aber Stadt und Land sind zugleich auch sehr unterschie­dlich, und wenn man diese Unterschie­de nivelliert, dann entstehen in Stadt und Land sterile „Teillebens­räume“und anonyme „Zwischenst­ädte“, in denen sich die Menschen nicht mehr zu Hause fühlen. Die Politik ist zusammen mit den Betroffene­n aufgeforde­rt, hier neue Perspektiv­en zu entwickeln, die quer zu den traditione­llen Fronten verlaufen. WERNER BÄTZING war von 1995 bis 2014 Professor für Kulturgeog­raphie am Institut für Geographie der Universitä­t Erlangen. Heute leitet er das Archiv für integrativ­e Alpenforsc­hung. 2020 ist sein Buch „Das Landleben – Geschichte und Zukunft einer gefährdete­n Lebensform“im C.-H.-Beck-Verlag erschienen.

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