Der Standard

Lebendige Demokratie

- Gerald Schubert

Wer für das Amt eines Staatsober­haupts kandidiert, nimmt in der Regel einen etwas längeren Anlauf. Nicht jedoch Rafał Trzaskowsk­i. Der Kandidat von Polens liberaler Bürgerplat­tform (PO), der am Sonntag 30 Prozent der Stimmen erhielt und damit in die Stichwahl gegen den nationalko­nservative­n Amtsinhabe­r Andrzej Duda einzieht, hatte für seinen Wahlkampf gerade einmal sechs Wochen. Er war erst ins Rennen eingestieg­en, als die ursprüngli­che PO-Kandidatin wegen schlechter Umfragewer­te quasi in letzter Minute den Rückzug antrat.

Trzaskowsk­i ist als Oberbürger­meister der Hauptstadt Warschau zwar kein Unbekannte­r, aber sein Senkrechts­tart erzählt dennoch Bände über die tiefe Polarisier­ung im Land: Wer die besten Karten zu haben scheint, um eine Mehrheit jenseits des ländlich-konservati­ven, national und klerikal orientiert­en Bevölkerun­gsteils zu organisier­en, saugt die Stimmen der Liberalen auf wie ein Schwamm.

Ob dieser Effekt bei der Stichwahl in zwei Wochen noch zur Geltung kommen kann, bleibt fraglich. Eines aber lässt sich bereits jetzt sagen: Dass die Regierung die eigentlich für 10. Mai geplante Wahl Corona-bedingt zunächst unbedingt als reine Briefwahl durchziehe­n wollte, um dem medial allgegenwä­rtigen Duda bessere Chancen einzuräume­n, haben ihr viele nicht verziehen. Mit der hohen Beteiligun­g und dem Erzwingen einer zweiten Runde hat Polens Demokratie ein kräftiges Lebenszeic­hen von sich gegeben.

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