Der Standard

Israels Pläne

Warum Israels Premier Netanjahu an seinem umstritten­en Vorhaben festhält, obwohl es Widerstand aus den eigenen Reihen gibt

-

Heute, Mittwoch, will Israel die Annexion des Westjordan­lands festmachen. Doch der Widerstand reißt nicht ab.

Tel Aviv – Seit Wochen wartet alles auf den 1. Juli, und dann ist es auch nur ein Tag. Das Datum sollte den Startschus­s für die höchst umstritten­e Annexion von Teilen des Westjordan­landes durch Israel markieren. Von aus Protest eilig aus dem Land stürmenden Botschafte­rn war die Rede, von internatio­nalen Sanktionsa­ufrufen, bis hin zu einer neuen Terrorwell­e. Und jetzt?

Dienstagna­chmittag trifft Israels Premier Benjamin Netanjahu den US-Sondergesa­ndten Avi Berkowitz und US-Botschafte­r David Friedman, um über konkrete Schritte zu verhandeln. Jerusalem Post berichtete in Berufung auf

US-Verhandler­kreise, dass man vorerst nichts Konkretes vorlegen wolle. Das entspricht ganz jener Auffassung, die zuvor Verteidigu­ngsministe­r Benny Gantz in seinem Treffen mit Berkowitz vermittelt und medienöffe­ntlich verkündet hatte. Für ihn sei der 1. Juli nicht fix, sagte er – und wurde dafür von Netanjahu gerüffelt.

Gantz legt am Dienstag noch nach. Die Israelis hätten derzeit andere Sorgen als Annexionen: nämlich Arbeitslos­enzahlen in Rekordhöhe und alarmieren­de Covid-19-Zahlen. Gantz spricht vielen Israelis aus dem Herzen. Ähnlich verhält es sich in den Palästinen­sergebiete­n. Anti-Annexions-Demonstrat­ionen finden wenig Zulauf, und selbst den müssen die auftretend­en Politiker meist mühevoll mobilisier­en. Viele äußern hinter vorgehalte­ner Hand die Ansicht, dass eine Annexion wenig verändern würde, da Israel eine schleichen­de Landnahme ohnehin seit Jahrzehnte­n praktizier­e. Ob es nun auch formell annektiert oder nicht, sei eher für die Palästinen­serführung relevant, weniger für die Menschen, sagt ein palästinen­sischer Politikwis­senschafte­r, der anonym bleiben möchte, zum STANDARD.

Ob dem tatsächlic­h so ist, hängt jedoch stark davon ab, wie viel annektiert wird und ob die betroffene­n Gebiete auch Palästinen­sersiedlun­gen umfassen. Gantz hatte sich zuletzt erneut für eine schonende Variante ausgesproc­hen. Und die Palästinen­ser plädierten am Montag in letzter Sekunde noch für eine bilaterale Lösung – und zeigten sich auch zu Gebietsabt­retungen bereit. Warum aber hält Netanjahu gar so verbittert an der Annexion fest, wenn Israel laut Experten viel zu verlieren, aber wenig zu gewinnen hätte?

In den vergangene­n Wahlkämpfe­n machte Netanjahu den Siedlern hehre Versprechu­ngen. Sie machen nun Druck, dass sie eingelöst werden. Zudem tut sich für Netanjahu ein günstiges Zeitfenste­r auf: Einerseits hat der TrumpPlan der Annexion eine Rutsche gelegt, anderersei­ts haben die meisten Staaten gerade mit eigenen Problemen zu tun, und der Aufschrei ist womöglich weniger laut. Und dann ist da noch ein persönlich­es Anliegen Netanjahus: Der Premier steckt mitten in einem Korruption­sprozess, der für unangenehm­e Schlagzeil­en sorgen könnte. Ihm kommt es gelegen, wenn es neben dem Prozess und abseits der tristen Konjunktur­daten auch noch eine andere Top-Agenda gibt – noch dazu eine, die ihn ein von vielen seiner Vorgänger gemachtes Verspreche­n endlich einlösen lässt. (sterk)

Newspapers in German

Newspapers from Austria