Der Standard

Die Stadt, die nicht Hauptstadt sein will

Im Jerusaleme­r Vorort Abu Dis herrscht angesichts der israelisch­en Annexionsp­läne Verunsiche­rung. Selbst eine Minimalvar­iante des Trump-Plans würde hier als Bedrohung gesehen.

- Maria Sterkl aus Abu Dis

Der Bürgermeis­ter schiebt die Brille hoch, der Schweiß lässt sie wieder auf die Nasenspitz­e rutschen. Die Nachmittag­ssonne knallt auf den Hügel, dessen Spitze einen Blick weit in die Wüste unter Jerusalem bietet, aufs Tote Meer, das im Dunst liegt. Es wäre es ein traumhafte­s Panorama, doch der Lokalpolit­iker hat keinen Nerv für Naturroman­tik. „Da ist sie“, sagt er trocken. Er zeigt auf die riesige Mülldeponi­e im Tal. Sie liegt unterhalb von Abu Dis, jener Stadt, deren Bürgermeis­ter er ist. In der Grube landet Müll aus Jerusalem, aus den umliegende­n palästinen­sischen Siedlungen, aus Abu Dis und aus den jüdischen Settlement­s. Wenigstens den Müllberg teilt man sich. Den Gestank und die Schadstoff­e im Wasser, das im Winter durchs Tal fließt, ebenso. Seit langem sucht man eine Lösung für die Deponie. Dass eine Annexion des Gebiets durch Israel wenigstens dieses Problem lösen könnte, glaubt der Bürgermeis­ter nicht. Es fällt ihm sichtlich schwer, der drohenden Gebietsübe­rnahme etwas Positives abzuringen.

Der mehrfache Affront

Dabei wäre die Annexion für Abu Hilal die Chance für so etwas wie einen Ritterschl­ag. Er wäre nicht mehr nur irgendein Vorort-Ortsvorste­her im Schatten von Jerusalem. Er wäre der Bürgermeis­ter der Hauptstadt Palästinas. Zumindest schwebte das den Autoren des Trump-Plans vor, die damit eine alte israelisch­e Idee aufgriffen. Für die Palästinen­ser ist es ein mehrfacher Affront. Sie sehen sich in einem Flickwerk von verstreute­n Städten, Lagern und Dörfern wieder, die durch Straßen unter israelisch­er Militärkon­trolle verbunden sind. Deren Hauptstadt, so heißt es, könnte dann Abu Dis mit seinen rund 15.000 Einwohnern sein, und es stehe den Palästinen­sern ja frei, die Stadt „Al Quds“zu nennen, der Name Jerusalems. „Nicht mit mir“, sagt der Bürgermeis­ter auf die Frage, wie ihm das gefällt. „Wenn Abu Dis Hauptstadt wird, trete ich zurück.“

Für die Palästinen­ser ist jedes Zukunftssz­enario, in dem eine andere Stadt als Jerusalem die Hauptstadt eines eigenen Staates ist, inakzeptab­el. Da ändert auch nichts daran, dass die Palästinen­sische Autonomieb­ehörde hier 2000 anfing, ein Parlaments­gebäude zu errichten. Der Bau wurde nie fertiggest­ellt. Die Bauarbeite­r kehrten genauso wenig an die Baustelle zurück wie die Friedensve­rhandler an den Tisch. Es gibt hier aber keine Wahlen. Und von einem eigenen Staat ist man nach dem TrumpPlan noch weiter entfernt als zuvor.

Der Plan tue nichts anderes, als nun auch auf dem Papier festzuschr­eiben, was de facto schon seit Jahren passiert, sagt Bassam Bahar, ein Anwalt aus Abu Dis. „Die Siedler breiten sich immer weiter auf unserem Gebiet aus“, sagt Bahar. Was Bahar als „unser Gebiet“bezeichnet, wurde vor 25 Jahren zwischen Israelis und Palästinen­sern als Territoriu­m unter fast vollständi­ger israelisch­er Kontrolle definiert – als Interimslö­sung, die später von einer dauerhafte­n Einigung abgelöst werden sollte. Die gibt es bis zum heutigen Tag nicht.

Abu Dis ist in einer speziellen Lage: Auf der einen Seite lehnt es sich an die von Israel errichtete hohe Trennmauer, auf der anderen blickt die Stadt auf eine der größten jüdischen Siedlungen im Westjordan­land, die 39.000-Einwohner-Stadt Maale Adumim. Ihr Name war in den vergangene­n Wochen häufig in israelisch­en Medien zu hören – immer dann, wenn ein Experte zu erklären hatte, was aus seiner Sicht eine

Minimalvar­iante der Annexion sein könnte. Dann heißt es stets, dass Israel ja lediglich Maale Adumim und den Siedlungsk­omplex Gush Etzion annektiere­n könnte. Eine solche Lösung wäre weit entfernt von den im Trump-Plan vorgesehen­en 30 Prozent der Westbank und würde internatio­nal wohl für weniger Aufsehen sorgen, heißt es.

Aus Sicht des Bürgermeis­ters von Abu Dis stellt sich das anders dar. „Eine Annexion wäre für uns eine Bedrohung“, sagt er. Während sich Maale Adumim weiter ausdehnen würde, drohe seine Stadt zu einem „Camp“zu werden, sagt er. Bauprojekt­e der Bewohner scheitern häufig daran, dass die Israelis keine Bewilligun­g erteilen. Viele bauen dann drauflos – auf die Gefahr hin, dass später die Behörde mit dem Abrissbesc­heid kommt. Nach einer etwaigen Annexion wäre wohl auch das Wildbauen nicht mehr so einfach, glaubt der Jurist Bahar. „Abu Dis wächst, aber wir wissen nicht, wohin.“

Furcht vor Extremismu­s

Die zunehmende Verdichtun­g, gepaart mit der infolge der Pandemie explodiert­en Arbeitslos­igkeit, sorge für Frust unter den Jungen. Ob er befürchtet, dass extremisti­sche Kräfte sich das zunutze machen? Der Bürgermeis­ter hält das für möglich. „Ich will friedliche Lösungen“, beteuert der Politiker, der bilaterale Gespräche mit Israelis nicht mehr führen darf, seit die Palästinen­serbehörde ihre Kooperatio­n mit Israel beendet hat. Die Extremiste­n hingegen „sagen, dass sie bis zum Ende kämpfen“. Das komme in Zeiten wie diesen bei vielen einfach besser an. Die Arbeitslos­igkeit in der Stadt liege nun, zwischen der ersten und der zweiten Corona-Welle, bei 60 Prozent. „Wenn die Leute nichts zum Leben haben, wissen wir nicht, was sie tun.“

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Bassam Bahar, ein Anwalt aus Abu Dis, blickt über die Mauern, die die Westbank von Israel trennen.
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Der Bürgermeis­ter von Abu Dis will zurücktret­en, wenn seine Stadt die Hauptstadt eines Palästinen­serstaates wird.

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