Wie die Bevölkerung der Erde wachsen könnte
Je nach Szenario könnten bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zwischen sieben und mehr als 13 Milliarden Menschen auf dem Planeten leben
Fortsetzung von Seite 15 nale Migration in den nächsten Jahren zum Stillstand kommt.“
Das Coronavirus hat die Debatten um Migration, Bevölkerungsschwund und -explosion in den Hintergrund gedrängt, die bisher den Diskurs um demografische Entwicklungen bestimmten. Denn wie viele Menschen sich auf der Erde beziehungsweise in verschiedenen Erdteilen befinden, wohin sie gehen und vor allem wie viele Kinder sie bekommen, hat stets Zukunftsängste getriggert. Spätestens seit Thomas Malthus (1766–1834) dystopischem „Bevölkerungsgesetz“wurde die ansteigende Population des frühindustriellen Zeitalters zum Symbol für Armut, Hunger, Seuchen und frühen Tod.
Wachstumsschmerzen
Um 1800 befand sich Großbritannien – wie auch weite Teile Europas – am Ende der ersten Phase der sogenannten demografischen Transformation. Seit Anbeginn der Menschheit hatten hohe Geburten- wie Sterberaten die Bevölkerung nur langsam wachsen lassen. Im Zuge der industriellen Revolution mit Fortschritten in Medizin, Hygiene und Agrartechnik stieg die Lebenserwartung stetig an – Phase zwei mit weiterhin hohen Geburtenraten, aber sinkenden Sterberaten und daher rasantem Bevölkerungswachstum war im Gange. Erst in Phase drei, die in Europa und Nordamerika Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzte, begannen auch die Geburtenraten – vor allem aufgrund von Urbanisierung und besserer Bildung – zu sinken, um sich in Phase vier auf dem Niveau der Sterberaten einzupendeln.
Der Rest der Welt verharrte weiterhin zu großen Teilen in Phase eins und zwei, die globale Bevölkerung wuchs weiter, mit einem Maximum von zwei Prozent pro Jahr in den 1960er-Jahren. Zu dieser Zeit prägten alarmistische Studien wie Population Bomb (1968) von Paul Ehrlich und der einflussreiche Club-of-Rome-Bericht The
Limits to Growth (1972) das bis heute weitverbreitete Bild einer drohenden „Bevölkerungsexplosion“, dem der klimawandelgebeutelte Planet mit seinen begrenzten Ressourcen nicht standhalten könne. Seither wird mit oft rassistischen Argumentationen gegen die vermeintliche Überbevölkerung der vorwiegend armen Länder des Globalen Südens gewettert. Dass sich trotz wachsender Bevölkerungen die Lebensstandards in immer weiteren Teilen der Welt verbessert haben und jeder Mensch ausreichend ernährt werden könnte, würde man die Ressourcen besser verteilen, fällt da meist unter den Tisch.
Auf der anderen Seite ringt die entwickelte Welt mit sinkenden Geburtenraten und alternden Gesellschaften – 27 Länder schrumpfen bereits jetzt, 2050 werden es 55 sein. Zwar wächst die Weltbevölkerung derzeit noch um etwa 82 Millionen Menschen pro Jahr – vor allem durch nach wie vor starke Zuwächse in afrikanischen Ländern südlich der Sahara, wo sich die Bevölkerung bis 2050 verdoppeln wird. Doch das globale Wachstum bremst sich immer weiter ein.
Peak der Weltbevölkerung
In der aktuellsten UN-Bevölkerungsprojektion von 2019 rechnen die Wissenschafter damit, dass am Ende des Jahrhunderts knapp elf Milliarden Menschen auf der Erde leben werden. Damit wäre der Peak der Menschheitsgeschichte erreicht, ab dann sei eine stetige Verkleinerung der Weltbevölkerung unumgänglich. Dafür sprechen die prognostizierten Geburtenraten: Bekam eine Frau um 1950 im weltweiten Durchschnitt fünf Kinder, waren es 2019 nur mehr 2,5. Bis 2100 soll die Zahl laut UN auf 1,9 fallen – und damit auf unter etwa zwei Kinder pro Frau, was bedeutet, dass die Bevölkerungszahl abnimmt.
Die UN-Modelle würden aber einen entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Weltbevölkerung nicht berücksichtigen, sagt der renommierte Demograf Wolfgang Lutz (siehe Interview Seite 17): den immensen Einfluss von Bildung, vor allem von Frauen, auf die Entscheidung, ob, wann und wie viele Kinder jemand bekommen will. In die Bevölkerungsszenarien, die Lutz und seine Kollegen ausrechnen, sind Prognosen für verschiedene Bildungslevels und ihre Auswirkungen auf Geburten- und Sterberaten integriert. Demnach könnte sich die steigende Kurve der Weltbevölkerung deutlich früher abflachen und bereits in den 2070erJahren ein Maximum von knapp unter zehn Milliarden Menschen erreichen. Im Gegensatz zu den UN-Prognosen gehen die Forscher um Lutz davon aus, dass Chinas Geburtenrate nicht ansteigen, sondern dem Muster des bildungshungrigen Südkorea folgen wird – das jetzt schon eine extrem niedrige Geburtenrate von unter einem Kind pro Frau hat. Außerdem wird damit gerechnet, dass in Afrika Investitionen in Bildung die Geburtenraten schneller sinken lassen.
Wann auch immer der genaue Zeitpunkt sein wird – sobald der Rückgang der Weltbevölkerung beginnt, wird er nie enden, sagen der Sozialwissenschafter Darrell Bricker und der Journalist John Ibbitson in ihrem Sachbuch Empty
Planet (2019). Doch was bedeutet das? „Wenn am Ende des Jahrhunderts weltweit rund 1,5 Kinder pro
Frau zur Welt kommen und dies dann konstant bleibt, zusammen mit einer Zunahme der Lebenserwartung auf 100 Jahre, dann gäbe es im Jahr 2200 etwa drei Milliarden Menschen – genauso viel wie 1960“, sagt Lutz. „Das ist eine Größe, von der Ökologen träumen. Wenn diese Menschen besser gebildet und produktiver sind, dann werden sie auch den Klimawandel, die Alterung und andere Herausforderungen besser meistern“
Denn sicher ist: Die Menschheit wird immer betagter. 2050 wird der UN-Prognose zufolge eine von sechs Personen über 65 Jahre alt sein (heute ist es eine von elf). Die Lebenserwartung wird global von 72,6 auf 77,1 Jahre steigen. Wie gesund und selbstständig die Älteren sein werden, hängt stark von den Lebensbedingungen in den einzelnen Ländern ab, wie eine aktuelle Studie des IIASA World Population Program bescheinigt. Wege zu finden, sich darauf finanziell vorzubereiten, müsste oberste nationale und globale Priorität werden, sagen die Forscher.
„Europa und Japan sind mit den höchsten Lebenserwartungen, den geringsten Kinderzahlen und dem höchsten Durchschnittsalter die demografische Avantgarde der Welt“, sagt der Bevölkerungsexperte Rainer Münz. „Jetzt gilt es etwas daraus zu machen – und eine Silver Economy zu entwickeln.“