Der Standard

Von wegen Gefahr für Meinungsfr­eiheit

Polemiken gegen politische Korrekthei­t wie unlängst an dieser Stelle gehorchen immer dem gleichen Muster: Man bauscht ein Bedrohungs­szenario auf und übersieht umgekehrt, was tatsächlic­h alles sagbar ist.

- René Rusch

Wen bei der Lektüre des STANDARD- Kommentars von Georg Cavallar (27. 6. 2020) das Gefühl beschleich­t, er oder sie hätte diesen Text schon einmal gelesen, täuscht sich nicht. Anti-PC-Stücke wie „Zu viel Aktivismus“werden so oder sehr ähnlich seit Jahrzehnte­n wiederkehr­end veröffentl­icht. Die überwiegen­de Reaktion der Leserschaf­t ist in aller Regel ein besorgt zustimmend­es „Endlich sagt’s mal einer“. Nachzulese­n in diesem Fall auf derStandar­d.at: Dort lautet das zweitpopul­ärste Posting: „Und das in DerStandar­d. Dass ich das noch erleben darf. ;-) Danke, Herr Cavallar!“

Die große Zustimmung überrascht nicht. Wer Political Correctnes­s attackiert, kann sich lobender Worte sicher sein. Doch die Stimmungsl­age, dass diese Form der Kritik in irgendeine­r Weise originell oder rebellisch wäre, ist schwer nachvollzi­ehbar. Im Jahr 1991 (!) erschienen die ersten PC-kritischen Meinungsst­ücke im deutschen Feuilleton. Das Gros der entspreche­nden Artikel, die seither erschienen sind, ist dem gleichen Bauplan gefolgt. „Zu viel Aktivismus“bildet hier keine Ausnahme und entspricht in Aussage und Struktur dem typischen Anti-Political-Correctnes­s-Kommentar.

Die Grundaussa­ge: Die Meinungsfr­eiheit ist in Gefahr. Dies ist angeblich der Fall, weil ein Verlag ein Wort aus einem Kinderbuch streicht oder die Verwendung bestimmter Begriffe (z. B. das N-Wort) kritisiert wird. Im vorliegend­en Kommentar sind es zerstörte Denkmäler, ein beurlaubte­r Uni-Professor und der Irrsinn, dass HBO Vom Winde ver

weht vorübergeh­end nicht ausgestrah­lt hat.

Zentrales Element ist der beurlaubte Professor; wie in der PCKritik üblich, fungiert eine haarsträub­ende Uni-Episode als warnendes Beispiel dafür, dass über bestimmte Themen nicht mehr debattiert werden könne: „Fragen über Fragen, die gestellt und diskutiert werden sollten. Aber das ist offensicht­lich unerwünsch­t.“Der Witz dabei ist natürlich, dass Cavallar in der Tat diese Fragen diskutiert. Im öffentlich­en Diskurs – in dem Fall im Onlineforu­m des STANDARD – wird die Debatte lebhaft weitergefü­hrt. Bereits davor hat der Fall in den USA für zumindest so viel Aufregung gesorgt, dass man im fernen Österreich davon Notiz nehmen konnte. Es stellt sich die Frage: Wo soll dieser Ort sein, an dem diese Fragen nicht diskutiert werden dürfen?

Antirassis­ten mitschuldi­g

Wie man es aus vielen Anti-Political-Correctnes­s-Kommentare­n kennt, wird auch hier der Vorwurf vorgebrach­t, dass durch „politisch korrekte Identitäts­politik“das gegnerisch­e Lager gestärkt und weiter radikalisi­ert werde. Soll heißen: Jene, die Rassismus kritisiere­n, sind auch ein wenig mitschuldi­g daran. Diese Argumentat­ion ist gerade in Bezug auf das von Cavallar genannte Trump-Lager absurd: In den vergangene­n Wochen konnte man beobachten, wie Trump und Co die Frage des Tragens von Schutzmask­en (!) zu einem Kulturkamp­f stilisiert­en. Dieses Lager benötigt keinen Auslöser, es radikalisi­ert sich ganz von allein. Zur Erinnerung: Alle Jahre wieder wird der „War on Christmas“beklagt, ohne dass es dafür den geringsten Anlass gäbe.

In der Auseinande­rsetzung zwischen dem Trump-Lager und „Social Justice Warriors“positionie­rt sich Cavallar in der vermeintli­chen Mitte. Diese Selbstposi­tionierung als neutraler Beobachter – im Forum gelobt als „Stimme der Vernunft“– ist typisch für den umsichtige­n PC-Kritiker. Schließlic­h klingen Standpunkt­e wie der folgende immer gut: „Gehört es nicht zu einer liberalen Gesellscha­ft, dass auch abweichend­e Meinungen zumindest gehört werden sollten? Ist hier das Gut der Meinungsfr­eiheit nicht höher zu gewichten?“

Das Beispiel, auf das diese Sätze bezogen werden, ist allerdings äußerst schlecht gewählt: Cavallar bezieht sich auf den US-Senator Tom Cotton, der im Zuge der Ausschreit­ungen der letzten Wochen forderte, das Militär gegen USBürger einzusetze­n. Zitat Cotton: „If local law enforcemen­t is overwhelme­d and needs backup, let’s see how tough these Antifa terrorists are when they’re facing off with the 101st Airborne Division.“Abgesehen davon, dass der Senator ein zweifelhaf­tes Testimonia­l für das „Gut der Meinungsfr­eiheit“abgibt, wird hier erneut der Fehler begangen, Kritik an Cottons Aussagen mit einer Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit in Verbindung zu setzen.

Cotton hat seinen Standpunkt in der New York Times veröffentl­icht, vertrat diesen auf Fox News und auf Twitter. Seine „abweichend­e Meinung“wird gehört. Und er wird sie weiter vertreten. Er muss nur aushalten, dass er für seine Standpunkt­e Kritik einsteckt.

Dieses Faktum kann in der Debatte um Political Correctnes­s nicht oft genug betont werden: Das Ausüben von Kritik ist nicht gleichbede­utend mit der Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit.

Man kann sich heutzutage auf mannigfalt­ige Weise rassistisc­h, menschenfe­indlich oder sonst wie niederträc­htig äußern. Man muss lediglich die Konsequenz­en dafür tragen. Dabei kann man in Sachen Menschenve­rachtung de facto sehr weit gehen, ohne nennenswer­te Folgen zu spüren. Wem heute nicht schlecht ist, der google: „Strache+an-urinieren“, „FPÖ Höbart+Höhlenmens­chen“, „Gauland+entsorgen“oder „von Storch+barbarisch­en, muslimisch­en, gruppenver­gewaltigen­den Männerhord­en“.

Rhetorisch­e Umkehrung

Es ist der immergleic­he Winkelzug, den die Political-Correctnes­sKritik vollzieht: Man konstruier­e ein derart schauriges Bedrohungs­szenario – Tugendterr­or! Schweigeka­rtell! Sprachpoli­zei! Meinungsdi­ktatur! –, dass die Leserschaf­t übersieht, was tatsächlic­h alles sagbar ist. Cavallar verzichtet erfreulich­erweise auf die gängigen Kampfbegri­ffe. Doch auch er schließt mit der vielsagend­en Mahnung, dass es sich bei dem, was er beschreibt, möglicherw­eise um ein „gefährlich­es Virus“handle, das sich global ausbreite.

Wer die Political-Correctnes­sKritik seit ihren Anfängen verfolgt, kann diese Angstmache nicht ernst nehmen. Die freie Meinungsäu­ßerung wird nicht durch Social Justice Warriors und Gutmensche­n bedroht.

Die tatsächlic­he Gefahr für die Meinungsfr­eiheit kommt von rechts und wird passend mit „Orbánisier­ung“betitelt. PC-Kritik ist seit jeher das Standardve­hikel, um rechte Positionen unter dem Deckmantel des Kampfs für die freie Rede in den öffentlich­en Diskurs zu schleusen.

RENÉ RUSCH ist Politikwis­senschafte­r, TV-Regisseur und Antirassis­mustrainer.

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Reinigung des George-Washington-Denkmals in dem nach ihm benannten Park in New York: Gießen solche symbolisch­en Attacken von Aktivisten nur Öl ins Feuer der gesellscha­ftlichen Spaltung?

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