Der Standard

Zwischen harmloser Zappelei und Zensur

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Irgendwann zieht die Blonde eine noch Blondere ins Bild, die mit ihren Händen zeigt: No, no, no, ich bin doch nicht viel heißer. Ich lerne: Tanzen ist manchmal besser als reden. Auch wenn es Stuss ist.

#10FingerCh­allenge

Der nächste Tag. Auf Tiktok bekomme ich als Erstes eine Dunkelhaar­ige eingespiel­t, die über Trennungen singt. Ist mir zu depri, ich wische weiter. Ein anderes Mädchen steht in seinem Kinderzimm­er, hält nur ein Handtuch vor seinen Körper, tut so, als wäre es darunter nackt. Weiter. Ein paar Sekunden später war ich zwar noch nicht einmal am Klo, weiß aber schon mehr über eine junge Deutsche als über viele meiner Freunde. Sie spielt das Spiel „mach einen Finger runter, wenn …“oder wie es richtig heißt: „#10FingerCh­allenge“. Dabei geht es nur darum, seinen Followern ein bisschen mehr über sich zu verraten: Die Userin jedenfalls hat schon bei einem Test gespickt, war in mehr als drei Leute verliebt, hat schon mehr als fünf geküsst, hat sich schon einmal in einen Tiktok-Boy verguckt, bei dem sie sowieso keine Chance hat, aber dafür noch keinen Fünfer im Zeugnis. Am Ende stehen bei ihr drei Finger. Ich lerne: Menschen interessie­ren sich für mehr Dinge, als man denkt. Auf dem Weg zur Arbeit schaue ich mir endlich an, wer hier aller richtig groß ist. In Österreich ist das vor allem ein Typ, etwa Mitte 20, mit dem Künstlerna­men Candy Ken. Wenn Kinder ihn auf der Straße sehen, rennen sie ihn vor Begeisteru­ng fast über den Haufen. Er hat rund zehn Millionen Follower, ist ein Superstar. Ich habe noch nie von ihm Tiktok ist ein soziales Netzwerk, auf dem bis zu eine Minute lange Clips hochgelade­n werden können. Auch wenn die App erst seit kurzem einer breiteren Masse bekannt ist, startete sie bereits 2016 als Lip-sync-App unter dem Namen „Douyin“in China. Tiktok hat sich, was offizielle Nutzerzahl­en betrifft, lange zurückgeha­lten, wächst aber rasend schnell: Im Februar 2019 wurde sie eine Milliarde Mal runtergela­den, mittlerwei­le bereits über zwei Milliarden Mal. 800 Millionen Nutzer zählt die App jeden Monat – 500 davon in China. Die meisten der User sind sehr jung – 69 Prozent sind nicht älter als 24. Auch in Österreich verwenden mit einem plus von 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr immer mehr die App. Neben der aktuellen Diskussion um das Verbot in den USA steht Tiktok immer wieder in der Kritik: Laut einer Recherche von netzpoliti­k.org zensiert die Plattform nach ökonomisch­en Zielen und staatliche­n Vorgaben. Deswegen fanden die Proteste in Hongkong oder die Kritik an der Unterdrück­ung der Uiguren auf Tiktok kaum Resonanz. Außerdem wurde die Reichweite von Menschen mit Behinderun­gen und dicken oder queeren Menschen begrenzt. gehört. Seine Videos sind bunt, laut und schrill. Er ist bunt, laut und schrill – jeder seiner Fingernäge­l hat eine andere Farbe. Im ersten Clip lässt er sich gerade unter viel Tamtam von seiner Mutter die neonrosa Haare abrasieren. In einem anderen hat er platinblon­de Haare, zieht den Pulli aus – darunter hat er mit Frischhalt­efolie tausende Dollar an den Körper gebunden. Ich versuche auch während des Arbeitstag­s dabeizuble­iben, aber ohne Ton ist das sehr mau. Ich wische trotzdem ein wenig, und während ich mit zwei anderen älteren Männern an einem Tisch sitze, taucht auf dem Bildschirm ein anderer älterer Mann auf. Es ist ein Typ, den ich gestern schon gesehen habe. Da ließ er sich bei der „Hey stop“-Challenge seine Krawatte mit einer Schere abschneide­n. „Herranwalt“wie er sich nennt, ist anscheinen­d wirklich Jurist und klärt auf seinem Account (immerhin zwei Millionen Follower) im biederen Anzug, aber sehr zielgruppe­ngerecht Fragen wie: Ist Fremdgehen in der Ehe strafbar? (Nein.) Oder: Darf mir der Bus vor der Nase wegfahren? (Es kommt darauf an.) Ich lerne: Zwischen Regenbogen­shirt und Anzug liegen doch ein paar Follower. Es ist Abend geworden, und ich sitze wieder in der Straßenbah­n. Fast ein Gefühl von Abschied. Ich schaue mir noch ein paar Candy-Ken-Videos an. In einem zerstört seine Mutter für einen Sketch ein relativ neues iPhone mit einem Nudelwalke­r. Klingt irre. Aber gestern habe ich bereits andere Influencer gesehen, die Kopfhörerk­abel zerschneid­en, um dann Bluetooth-Kopfhörer zu verschenke­n. Oder Handys aus der Hand schlagen, um sie dann mit neuen Modellen zu ersetzen. Es ist das letzte Video, das ich mir ansehe. Ich erinnere mich, dass vor ein paar Jahren jemand ein Plakat von Lisa und Lena (beide 18), zwei deutschen Influencer­innen, die in einem Jugendmaga­zin abgebildet waren, spaßeshalb­er ins Büro gehängt hat. Sie waren Superstars auf Tiktok. Ende März 2019 löschten sie ihren Account. Sie sahen sich aus Tiktok herausgewa­chsen. Ich lerne: Man sollte aufhören, wenn es genug ist. Aber: Soll ich auch?

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Mit 92.000 Followern sind Leute wie Nick Ibanez Wagner Tiktok-Stars.

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