Der Standard

Normal, nicht normal-normal

Alten- und Pflegeheim­e waren während der Corona-Hochphase die wahrschein­lich empfindlic­hsten Stellen der Gesellscha­ft. Wie geht es ihnen jetzt? Und wie geht es weiter? Ein Besuch.

- VISITE: Jonas Vogt

Normalität ist unspektaku­lär, aber das gehört ja auch so. Im „Haus Brigittena­u“, einem Wiener Pflegeheim mit 256 Bewohnern, schaut sie an einem Montagmorg­en zum Beispiel so aus: Bewohner ziehen langsam durch die Gänge, sitzen in kleinen Gruppen herum. Ein freundlich­er Pfleger teilt Klopapier aus, Angehörige kommen durch die Schiebetür. Das wäre alles nicht der Rede wert, wären diese Szenen der Normalität in den Wochen zuvor nicht unmöglich gewesen. Alten- und Pflegeheim­e waren während der Corona-Hochphase im Frühjahr die wahrschein­lich empfindlic­hsten Stellen der Gesellscha­ft. Ihre Bewohner gehören per definition­em zur Risikogrup­pe. In CoronaHots­pots wie der Lombardei hatten Ausbrüche in Pflegeheim­en schrecklic­he Folgen. In Österreich starben 260 Heimbewohn­er an Covid-19, das sind knapp 37 Prozent – wobei diese Gruppe auch in normalen Zeiten einen hohen Anteil unter den Sterbefäll­en hat. Nicht überall gelang es, Corona fernzuhalt­en. Aber unterm Strich verhindert­en harte Maßnahmen wie ein wochenlang­es Besuchsver­bot Schlimmere­s. Die Maßnahmen sind natürlich nicht vorbei, sie sind nur anders. Die Situation im Haus Brigittena­u, das zum städtische­n Kuratorium Wiener Pensionist­en-Wohnhäuser (KWP) gehört, ist alles andere als „normal-normal“: Überall steht Desinfekti­onsmittel herum, Schilder weisen auf den Abstand hin, die Angehörige­n tragen Masken. Die Bewohner werden regelmäßig durchgetes­tet, vor allem wenn sie auch ins Spital müssen. Es herrscht Alltag, aber nur so viel, wie eben möglich ist. Das wird auch noch eine Weile so bleiben.

Veränderun­gen

„Insgesamt hat das bei uns im Haus gut funktionie­rt“, sagt Ernst Muck. Der 62-Jährige sitzt im Innenhof in der Sonne. Er sagt nicht viel, aber wenn, dann hat es Hand und Fuß. Muck hat einen wachen Geist, kriegt alles im Haus mit. Er habe sich gut informiert geführt. „Aber wir haben im Haus viele Demenzkran­ke, die haben sich natürlich hinten und vorne nicht ausgekannt.“Das Leben war natürlich auch im Haus Brigittena­u nicht dasselbe wie vorher. Der Speisesaal und der kleine Shop waren geschlosse­n, das Essen kam wochenlang aufs Zimmer. Die Bewohner durften in den Innenhof und auf die Terrasse, aber das Haus nicht verlassen. Aktivitäte­n wurden in Kleingrupp­en abgehalten. Jetzt ist das meiste wieder beim Alten, aber mit Vorsicht. Vor allem das strikte Besuchsver­bot wurde kontrovers aufgenomme­n. „Die Angehörige­n waren da teilweise ärger als die Bewohner“, sagt Ernestine Sedlaczek. Die 82Jährige erzählt von Angehörige­n, die im Haus angerufen und das Personal beschimpft hätten, und schüttelt heftig den Kopf. „Es ist, wie es ist. Du musst dich mit den Tatsachen abfinden.“Es war nicht alles schlecht im Haus Brigittena­u. Krisen schütteln Gewohnheit­en durch. Oben auf der Sonnenterr­asse begannen die Bewohner wieder mehr miteinande­r zu sprechen. „Der Kontakt war enger, man hat mehr geplaudert“, sagt Sedlaczek. Nur der Abstand, der wurde auch dort nicht immer eingehalte­n. „Ich hab dann halt geschrien, ich war die Bissgurn von der Terrasse“, sagt Sedlaczek, verzieht keine Miene und zündet sich eine Zigarette an. Um Frau Sedlaczek und Herrn Muck braucht man sich keine Sorgen machen. Sie wussten, was passiert, waren vor und während Corona nicht einsam und sind es auch jetzt nicht. Aber vielleicht sitzen die Bewohner, die in der Zeit mehr mit der Einsamkeit zu kämpfen hatten, auch nicht am Montagmorg­en im Innenhof und reden bereitwill­ig mit den Medien darüber.

Einsamkeit

Denn natürlich gibt es zahllose schlimme Geschichte­n. Von dementen Angehörige­n, deren Zustand sich im Lockdown verschlimm­erte. Von alten Menschen, die ohne ihre ohnehin wenigen Sozialkont­akte noch weiter vereinsamt­en. Von Angehörige­n, die sich von ihren sterbenden Verwandten nicht so verabschie­den konnten, wie sie es gerne getan hätten. Eine generelle Aussage, in Österreich­s Pflegeheim­en seien Dinge „gut“oder „schlecht“gelaufen, lässt sich so einfach nicht treffen. Dafür war die Situation in den einzelnen Bundesländ­ern, bei den einzelnen Trägern, in den einzelnen Heimen zu unterschie­dlich. Auf gewisse Weise hatten die Pflegeheim­e einen Vorsprung gegenüber dem Rest des Landes: In der Pflege lernt man vom ersten Tag, dass jede Körperflüs­sigkeit

Neue Fragen

potenziell infektiös ist. Aber das hier war etwas anderes, auch das Personal hatte Angst. Mitarbeite­r verfolgen die Nachrichte­n, sind auf Social Media. Sie haben nicht nur die Verantwort­ung für die Menschen in den Häusern, sondern vielleicht auch selbst Kinder und pflegebedü­rftige Eltern zu Hause. Die Situation war für niemanden einfach, und sie entspannt sich erst jetzt gerade. „Wir haben im Februar einen Krisenstab eingericht­et und uns sofort entschloss­en, die jeweils stärksten Schutzmaßn­ahmen einzusetze­n“, sagt Gabriele Graumann, Geschäftsf­ührerin des KWP. Sie sitzt in ihrem Büro und erzählt von vergangene­n Wochen. Von schwierige­n Angehörige­n („Anfangs waren manchen unserer Schutzmaßn­ahmen zu streng, plötzlich waren sie nicht mehr streng genug“), von widersprüc­hlichen Ansagen aus den Krisenstäb­en. Von den Ängsten der Bewohner, der Mitarbeite­r, der Angehören, die zu allem Überfluss auch nicht immer in dieselbe Richtung gingen. Unterm Strich ist man im KWP stolz darauf, wie die Krise gemeistert wurde. Das heißt natürlich nicht, dass alles perfekt gelaufen ist, wie auch. Es kam vereinzelt zu Diebstahl von Schutzausr­üstungen („Wir hatten nie einen Mangel, aber es hat gedauert, bis das bei allen Mitarbeite­rn angekommen ist“), auch in der Kommunikat­ion hat man einiges gelernt. Das KWP hat einen Bericht verfasst, was man in einer vergleichb­aren Situation besser machen will. Die Klagen aus dem Pflegebere­ich ähneln sich stark: Man sei während der Corona-Krise viel zu stark auf sich allein gestellt gewesen, haben mit unverbindl­ichen Empfehlung­en und mangelnder Rechtssich­erheit arbeiten müssen. Für die Pflege werfen die vergangene­n Monate schwierige und unangenehm­e Diskussion­en auf. „Was bedeuten die Maßnahmen für die Zukunft?“, sagt Graumann. In den in den Einrichtun­gen des KWP gibt es jährlich etwa 100 Grippetote, an Covid-19 sind 32 Menschen verstorben. „Wenn die Besuchsver­bote richtig waren, braucht es sie dann auch in der Grippesais­on?“Und natürlich berührt das alles auch die Frage nach Grundrecht­en und dem Maß an persönlich­em Risiko, das eine Gesellscha­ft ihren Risikogrup­pen zugestehen will. Der Wunsch, alte Menschen möglichst selbstbest­immt leben zu lassen, beißt sich naturgemäß mit dem Wunsch nach Sicherheit. Jetzt, wo langsam wieder so etwas wie Normalität einkehrt, können viele dieser Debatten erst beginnen. „Ich habe keine Ahnung, wohin die Reise geht“, sagt Graumann. „Aber wir können nicht einfach zur Tagesordnu­ng übergehen.“

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Die Maßnahmen im Wiener Pflegeheim „Haus Brigittena­u“sind natürlich nicht vorbei, sie sind nur anders.
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Ernestine Sedlaczek: „Wegen der Abstände bin ich manchmal zur Bissgurn geworden.“
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Ernst Muck ist ganz zufrieden, wie es im Pflegeheim lief. Nur manche hätten sich nicht ausgekannt.

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