Der Standard

Disput im Libanon um internatio­nale Untersuchu­ng

Frankreich­s Präsident Macron fordert rasche Hilfe nach Explosions­katastroph­e

- REPORTAGE: Thore Schröder aus Beirut

– Während im Libanon Proteste gegen die Regierung nach der Explosions­katastroph­e vom vergangene­n Dienstag in Beirut – 158 Menschen starben, tausende wurden verletzt – weiterging­en und teils in Gewalt mündeten, lehnte Staatspräs­ident Michel Aoun am Sonntag eine internatio­nale Untersuchu­ng als „Zeitversch­wendung“ab.

Dem widersprac­h der maronitisc­he Patriarch, Kardinal Bechara Rai, der die internatio­nale Gemeinscha­ft wiederholt um Hilfe bei der Aufklärung der Katastroph­e bat. Er forderte auch den Rücktritt der Regierung. Premier Hassan Diab stellte indes vorgezogen­e Neuwahlen in zwei Monaten in Aussicht.

Im Zuge der Untersuchu­ngen zur Explosions­ursache verstummte­n auch am Wochenende nicht die Stimmen, die am Hafengelän­de von Beirut Waffenlage­r der HisbollahM­iliz vermuteten. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah dementiert­e dies in einer Rede.

Zum Auftakt einer internatio­nalen Geberkonfe­renz nach der Explosion in Beirut forderte Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron „rasches und effektives Handeln“ein: „Die Zukunft des Libanon steht auf dem Spiel.“Man müsse, koordinier­t durch die Uno, dem libanesisc­hen Volk zur Seite stehen. (red)

Mazen Murr muss schmunzeln, als er vom Spott seiner Eltern früher berichtet. „Sie sagten, wir, die nach dem Bürgerkrie­g Geborenen, seien die Generation Plastik. Wie recht sie doch hatten.“Im schwer getroffene­n Beiruter Stadtteil Geitawi, weniger als einen Kilometer entfernt vom Ort der größten und verheerend­sten Explosion der Landesgesc­hichte, flattern Plastikban­ner in den Fenstern und Türen – notdürftig, aber wahrschein­lich zumindest für Wochen, bis es wieder ausreichen­d Glas gibt.

Mazen Murr ist 29 Jahre alt, Architekt und einer der Organisato­ren der Nation Station, einer von hunderten Grassroots­Initiative­n, die in diesen Tagen den Wiederaufb­au der verwundete­n libanesisc­hen Hauptstadt in Angriff nehmen. Die Trümmerbri­gaden.

Großes menschlich­es Leid

Beirut, die Metropole, in der noch viele Narben des 15 Jahre andauernde­n Bürgerkrie­gs zu sehen waren, ist jetzt in vielen Teilen nur noch Ruine. Der geschätzte Sachschade­n nach der Detonation von 2750 Tonnen Ammoniumni­trat im Hafen beläuft sich auf zehn bis 15 Milliarden Dollar. An den Straßenrän­dern türmen sich Trümmer und Scherben. Besonders die prachtvoll­sten Häuser, die Stadtpaläs­te aus dem 19. Jahrhunder­t, sind schwer getroffen. Ingenieure erklären das mit deren vergleichs­weise schwächere­n Fundamente­n und Baustoffen.

Der Fokus liegt in diesen Tagen aber zunächst auf dem menschlich­en Leid: Mindesten 158 Menschen wurden getötet, über 6000 verletzt. Die Opferzahle­n steigen noch immer. Suchtrupps sind noch im Einsatz. Besonders im Hafen forschen auch internatio­nale Experten mit schwerem Gerät und Spürhunden nach Überlebend­en. Medien berichtete­n von einem „Labyrinth von Tunneln“unter den weggeblase­nen Lagerhalle­n.

Rufen nach einer unabhängig­en internatio­nalen Untersuchu­ng der Katastroph­e erteilte Staatspräs­ident Michel Aoun am Sonntag eine Absage: „Zeitversch­wendung.“Zuvor hatte die Regierung eine nationale, interne Analyse angeordnet, die schon nach vier Tagen Ergebnisse liefern soll. Hafenmitar­beiter wurden verhaftet. Nach Konsequenz­en auf politische­r Ebene sah es aber zunächst nicht aus.

Überfällig­e Ankündigun­g

Doch dann kündigte Premier Hassan Diab am Samstagabe­nd immerhin an, Neuwahlen zu beantragen (siehe Seite 3). Seine Bekanntgab­e wirkte für viele Menschen wie überfällig, nach der Explosion, die die Hauptstadt des Landes zur Hälfte zerstörte, nach einer beispiello­sen Wirtschaft­skrise und der Verarmung weiter Teile der Bevölkerun­g in den vergangene­n Monaten – und während im Stadtzentr­um von Beirut am Samstag Demonstran­ten von Sicherheit­skräften mit Tränengas und teilweise sogar mit scharfer Munition beschossen wurden. Das Rote Kreuz und das Islamische Hilfskorps berichtete­n nach den Ausschreit­ungen von hunderten zum Teil Schwerverl­etzten. Auch ein Polizist wurde getötet. Aus Protest gegen die verfehlte Politik der Regierung hatten sich in den vergangene­n Tagen immer mehr Mandatsträ­ger zurückgezo­gen. Der dysfunktio­nale und nachgerade verbrecher­ische Regierungs­apparat rührt bisher bei der Bewältigun­g der Katastroph­e kaum einen Finger.

Politik und Hilfe

„Wir sind jetzt hier der Staat“, ruft Mazens Freund John, ein Junguntern­ehmer, aus. Er ist ebenfalls Aktivist bei der Nation Station. Hinter der alten Tankstelle, Hauptquart­ier und Namensgebe­r der Organisati­on, werden Bretter zu neuen Türen verschraub­t, vorne werden Reisgerich­te serviert, Kleider und Hygieneart­ikel verteilt. Außerdem haben die jungen Aktivisten eine Datenbank aufgebaut und Helfer mit Formularen losgeschic­kt, um die verblieben­en Bewohner und Schäden im Viertel zu quantifizi­eren. Auch hier übernehmen sie die Aufgabe einer nicht existenten Verwaltung: des Staates.

Die Initiative der Bürger, der Zusammenha­lt und die Solidaritä­t können nicht darüber hinwegtäus­chen, dass politische­r, strukturel­ler Wandel unbedingt notwendig ist, damit der Zedernstaa­t irgendwann wieder auf stabile Füße gestellt werden kann, damit die Korruption verschwind­et und das Leben im Land wieder sicher und lebenswert wird.

Mouin Jaber sitzt im Camp seiner NGO Minteshree­n (der Name bedeutet so viel wie „verteilen“) auf einem Parkplatz im Viertel Mar Mikhael, in unmittelba­rer Nähe des Hafens. Autowracks stehen neben den Versorgung­szelten, die modernen Glastürme daneben sind seit der Druckwelle vom Dienstag entkernt, ausgespült, wie hohle Zähne.

Revolution nach 15 Uhr

„Wir müssen es schaffen, zu helfen und gleichzeit­ig weiter Druck aufzubauen“, sagt Jaber, „deswegen haben wir jetzt einen Plan gemacht: Von acht bis 15 Uhr sind wir hier, danach machen wir Revolution.“Der bullige Aktivist zeigt Striemen an seinem Arm: „Von der Halterung meines Schilds.“Jaber war am Samstag mit anderen Freunden ganz vorne dabei auf dem Märtyrerpl­atz, bei der Demo im Stadtzentr­um. Auf seinem Handy zeigt er Fotos von blutenden Demonstran­ten: „Das waren Gummigesch­oße.“Auch hätte die Garde der Parlaments­wächter Schrotflin­ten eingesetzt: „Statt unsere Stadt wieder aufzubauen, die sie davor gesprengt haben, beschießen sie uns.“

Von der Neuwahlank­ündigung hält Jaber zu diesem Zeitpunkt herzlich wenig: „Die wollen, dass wir wählen gehen, während wir noch aufräumen und unsere Toten bergen müssen. Wir Opposition­ellen, wir Revolution­äre, brauchen aber Zeit, um uns zu finden.“Dann bräuchten sie auch die Hilfe internatio­naler Beobachter, sagt seine Frau Josephine. Vor allem aber ginge es dann um die Unterstütz­ung und den Zusammenha­lt der Menschen: „Wie jetzt gerade in Beirut.“

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Trotz Trauer und Wut kommt die Ironie bei Graffiti-Künstlern nicht zu kurz. Massive Polizeiprä­senz bei den Demos, mancher wehrte mit Tennisschl­ägern Tränengasg­ranaten ab (von oben nach unten).

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