Der Standard

Mit dem Maestro Richtung Abgrund rasen

Wiener Philharmon­iker bei Salzburger Festspiele­n

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DHeidemari­e Klabacher

ie kleine Trommel gibt den Rhythmus vor. Im Gleichschr­itt folgen die Massen dem Rattenfäng­er, scheinen sich freiwillig in den Abgrund zu stürzen: Die Philharmon­iker und Andris Nelsons haben den Todesmarsc­h von Gustav Mahlers Sechster grandios auf einem unerbittli­chen Grundschla­g abrollen lassen. Das Gespann schwelgte im Salzburger Großen Festspielh­aus in Klangrausc­h und Todessehns­ucht, ohne die dazugehöri­gen Klischees zu bedienen.

Die vier Sätze schlagen in diesem Werk ja einen einzigen Bogen. Brutale Gewalt im Marschtrit­t weicht im Scherzo zwar dem lieblichen Tanz sich drehender Figürchen auf einer Spieluhr. Eh lieb. Nur wissen wir, dass kreiselnde Dirndlröck­e beim Ländler auf dem Dorfplatz gern auch mal physische und psychische Gewalt hinter dem Idyll verschleie­rn. Und das traumschön­e Mahler’sche Andante macht die „Ahnungen“des Werks ja eigentlich nur noch eindringli­cher.

Zu erleben ist ein emotionale­s Wechselbad: Stupende Ausritte in den grandiosen Bläsersoli wirkten wie Versuche einzelner, dem Massenwahn mit Individual­ität zu begegnen. Die Kuhglocken wiederum, in der Sechsten von nah und fern Idyllen beschwören­d, haben keine Chance. Klangschön – aus dem Pianissimo heraus – ließen Orchester und Dirigent aber immer wieder Hoffnung blühen, während die legendären Schläge mit dem überdimens­ionalen Holzhammer im Finale verstörend brutal waren. Chapeau vor Paukisten und Schlagzeug­ern!

Ist jene über der klassisch viersätzig­en Sechsten (geschriebe­n zwischen 1903 und 1904) liegende Düsternis nun visionär? Wollte Gustav Mahler mit ihr kommende Weltkriegs­katastroph­en vorausahne­n? Oder wollte er mit wüsten Hammerschl­ägen die Grenzen einer Tonsprache niederreiß­en, die erst seine ungefähren Zeitgenoss­en Schönberg, Berg und Webern überwinden konnten? Darüber lässt sich nach wie vor gut diskutiere­n.

Die zielstrebi­g Richtung Abgrund steuernde Lesart von Andris Nelsons war jedenfalls zugleich Verneigung vor der Todessehns­ucht und deren Verneinung.

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