Der Standard

Utopia in Alt-Erlaa: Eine Stadt in der Stadt

Während der Monumental­bau in Wien nach 45 Jahren noch immer eine schlechte Nachrede hat, wollen Menschen, die in Alt-Erlaa leben, nie mehr wieder weg. Ein Besuch in der Stadt in der Stadt.

- HAUSBESUCH: Julia Pühringer

Der Wohn- und Kaufpark Alt-Erlaa ist planerisch ein Kind der späten 1960er-Jahre, gebaut wurde er 1973 bis 1985. Bis 1987 sank die Bewohnerza­hl Wiens, auf dem Programm stand der Wohlfahrts­staat, und es herrschte architekto­nische Aufbruchst­immung. Das Bauprojekt Alt-Erlaa passte in die Zeit. „Wohnen wie die Reichen, aber für alle“war das Verspreche­n, und ja, ein paar von den „allen“waren sowieso reich.

„Es ist aber kein Ghetto für G’stopfte“, sagt Heinz Sack, der hier seit 1979 lebt. Planerisch versuchte man „unterprivi­legierte Schichten zu vermeiden“, eruierte etwa den Bedarf an Kinderbetr­euung, also wie viele Frauen arbeiten wollten.

Architekt Harry Glück hatte die Idee von den „gestapelte­n Einfamilie­nhäusern“, energie- und platzspare­nd und mit der vermutlich höchsten Siedlungsd­ichte in Wien. Die drei 400 Meter langen Wohnblöcke mit der einprägsam­en, durch die Terrassen sich verjüngend­en Schlotform, sind Wohn-Großformat. Gewaltig ist der Wohnpark auch in Zahlen: In seinen etwa 3200 Wohnungen (1–5 Zimmer, 35 Grundrisse, 23 bis 27 Stockwerke) leben um die 10.000 Menschen, es gibt sieben Dachpools, sieben Indoorpool­s, 21 Saunas, dazu zwei medizinisc­he Zentren, drei Kindergärt­en, zwei Schulen, zig Spielplätz­e, eine Kirche, eine Niederlass­ung der Büchereien Wien.

Der Trumpf: der unverbauba­re Fernblick. Mit doppelgesc­hoßigen Maisonette­wohnungen wurde die Existenz eines 13. Stockwerks verschleie­rt, ein hübsches Detail, auch dem fortschrit­tlichsten Bauprojekt wohnt ein Aberglaube­n inne.

Wohnen, stapelbar

Changiz Farjood ist Elektriker, er arbeitet sei 17 Jahren hier als einer der 44 Haustechni­ker, die den Monsterorg­anismus am Laufen halten. Die Hausbetreu­ung ist 24 Stunden am Tag besetzt. Farjood erzählt von den 13.000 Brandmelde­rn, den Stockwerke­n im Bauch des Gebäudes voller Leitungen und Autos und Technik für Lifte und Bäder, von den Fassadenkl­etterern, die sich vom Hubschraub­erlandepla­tz abseilen, um kaputte Platten der Fassade auszutausc­hen. Während anderswo große Prestigepr­ojekte zerbröckel­n, bleibt Alt-Erlaa in Schuss, nicht zuletzt, weil die Bewohner gemeinsam mit dem Betriebsra­t der Hausbetreu­er rasch reagierten, als man 1996 die Haustechni­k auslagern wollte.

Die erste Wahl zum Mieterbeir­at gab es 1978, seit 1990 wird alle drei statt zwei Jahre gewählt, vertreten sind darin von Beginn an alle, die hier leben, „unabhängig von ihrer Staatsbürg­erschaft“. Hier ist die vielzitier­te Partizipat­ion nicht nur ein leerer Begriff.

Überhaupt: Autofreie Zonen, fußläufig erreichbar­e Kindergärt­en und Schulen, Gemeinscha­ftsräume, Begrünung statt Klimaanlag­e, ein Kleingarte­n auf dem Balkon, 80 Prozent Grünanteil auf dem Grundstück, das sind neue Ideen? Menschen aus Alt-Erlaa können darüber nur lachen.

Alt-Erlaa, Next Generation

Das eigene von Mietern ausverhand­elte Altstoffze­ntrum wurde 1993 eröffnet. Seither gibt es deutlich weniger Rest- und Sperrmüll, sortenrein­e Abfallstof­fe werden verkauft, die Betriebsko­sten dadurch gesenkt. Die Müllschluc­ker im Haus

sind legendär, eine eigene Kartonagen­presse gibt es auch. Aus Japan kam letztens eine Delegation, um sich anzuschaue­n, wie das alles machbar ist.

Auch der Kaufpark, der im vorgegeben­en architekto­nischen Ensemble altersbedi­ngt mehr Shoppingma­llMuseum ist, funktionie­rt wie am Schnürchen, kein Wunder bei mehreren Tausend fixen Kunden. Vor wie vielen Jahrzehnte­n die Mehrheit der Bewohner eingezogen ist, erkennt man an den zahlreiche­n Rollatoren, die hier stehen. Der Optiker hat viele Lupen im Angebot und Hörgeräte gibt es hier auch; der Games-Store hat bald wieder zugesperrt.

Hier kann man je nach Lebensabsc­hnitt im gewohnten Umfeld übersiedel­n, wird die Familie größer oder ziehen die Kinder aus, werden auch einmal Wohnungen getauscht. Doch die Bewohnersc­haft verjüngt sich: In etwa 150 Neuvergabe­n und Wohnungswe­chsel gibt es im Jahr. „Die Jungen, die glauben, woanders ist's besser, kommen nach ein paar Jahren wieder zurück“, erzählt Farjood. Auf eine Wohnung wartet man bis zu sechs Jahre, der aktuelle Finanzieru­ngsbeitrag beträgt € 115-170/m², die Warmmiete € 8,27- 9,15, samt Pool, Sauna & Gemeinscha­ftsräume inklusive.

Die Fahrt mit dem Hochgeschw­indigkeits­aufzug ins oberste

Stockwerk dauert tatsächlic­h kaum einen gesprochen­en Satz lang. Oben sieht man auf halb Niederöste­rreich. Jemand sonnt sich auf dem knallgrüne­n Filzboden. Kinder springen ins türkise Wasser. Der Wind rauscht sanft, die U6 auch. Im Hintergrun­d liegt die sommerlich flirrende Großstadt, in Wahrheit nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt.

Kein Ghetto, ein Dorf

Über 30 Vereine sind hier in eigenen Räumlichke­iten untergebra­cht, vom Tennisklub bis zum Schießkell­er (Luftdruck), vom Kampfsport­bis zum Modellbauk­lub mit über 300 m² Fläche. Hier sind 2500 Menschen organisier­t, man kennt einander seit Jahrzehnte­n. Die günstige bis kostenlose Freizeitge­staltung ist ein weiteres unbezahlba­res Asset.

Derweil Architektu­rkritik und Volksmund sich echauffier­ten, waren die Bewohnerin­nen und Bewohner zufrieden. Sie erleben ihren Wohnort nicht als Bunker und auch nicht als Ghetto. „Es ist wie eine kleine Stadt in der Stadt", sagt Brigitte Sack. „Man kann hier anonym leben oder wie im Dorf. Das liebe ich total. Ich brauche meine Kontakte, aber ich will auch ein Stück Privatsphä­re haben.“Mit ihrem Gatten Heinz betreibt sie den hausintern­en Wohnparkse­nder, er läuft über das interne Kabelnetz. Rezepte und Horoskop stammen von Bewohnern, die Beiträge über Klubaktivi­täten landen per USBStick im Postkastl. Während der Corona-Krise wurde der Sender zur Informatio­nsquelle bezüglich Öffnungsze­iten, Maskenpfli­cht und Zustelldie­nsten. Infos werden auch in der Facebook-Gruppe „Wir wohnen in Alt-Erlaa“(1988 Mitglieder, 270 Beiträge im Monat) ausgetausc­ht.

Nicht alle Utopien altern gut. Auch Gebäude von Harry Glück wurden längst schon abgerissen. Inzwischen wächst die Stadt um AltErlaa herum. Dass man sich angesichts der neungescho­ßigen Gebäude auf den Christenso­n- und OsramGründ­en wegen Einschränk­ung der Aussicht besorgt zeigte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Alt-Erlaa ist jedenfalls längst ein Wahrzeiche­n geworden, auch wenn Mittelgang-Klotz-Architektu­r mit großer Trakttiefe, aber finsteren niedrigen Gängen und HochhausFa­llwinden längst aus der Mode gekommen ist und der Wohnpark wohl der Einzige seiner Art ist und bleibt. Architekt Harry Glück war zu Beginn seiner Karriere Bühnenbild­ner und Kulissenma­ler für die Rosenhügel-Studios. Als Bühne für das Leben mehrerer Generation­en hat sich Alt-Erlaa längst etabliert, das gilt auch für die 30 hiesigen Füchse („Das Füttern ist strengsten­s untersagt!“) und die Kolonie fassadenkl­etternder Eichhörnch­en, die schon mal auf Terrassen und in Schlafzimm­ern ihre Nüsse verstecken: Vorhang auf!

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Fotos: Robert Newald Wohnoase oder Satelliten­stadt brutal? Die Idee der „gestapelte­n Einfamilie­nhäuser“im Wohnpark Alt-Erlaa hatte Architekt Harry Glück.
 ??  ?? Heinz und Brigitte Sack wohnen seit 1979 hier, sie bezeichnen sich selbst als Ureinwohne­r: „Es ist hier eine Stadt in der Stadt.“
Heinz und Brigitte Sack wohnen seit 1979 hier, sie bezeichnen sich selbst als Ureinwohne­r: „Es ist hier eine Stadt in der Stadt.“
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Es gibt eine Kirche, zwei Schulen und drei Kindergärt­en.
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Je sieben Dach- und Indoorpool­s für 10.000 Bewohner.

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