Der Standard

Tränengas nach Wahl in Belarus

Offiziell hat die absolute Mehrheit der Belarussen bei der Präsidente­nwahl für Alexander Lukaschenk­o gestimmt. Die heftigen Proteste in Minsk und andernorts zeichnen jedoch ein anderes Bild.

- André Ballin

Am Montagmorg­en endlich trat Wahlleiter­in Lidia Jermoschin­a vor die Presse, um die vorläufige­n Ergebnisse zu verkünden: 80,23 Prozent habe Amtsinhabe­r Alexander Lukaschenk­o bekommen, sagte sie. Seine schärfste Herausford­erin Swetlana Tichanowsk­aja kam demnach auf 9,9 Prozent, die anderen Kandidaten auf zwischen ein und zwei Prozent. Gut sechs Prozent der Wähler stimmten gegen alle.

Das vorläufige Endergebni­s werde noch präzisiert, doch grundsätzl­iche Änderungen seien nicht mehr möglich, beschied Jermoschin­a, die trotz der Schlangen und teils fehlender Wahlzettel keinen Grund sah, an „der Transparen­z und Demokratie der Wahl“zu zweifeln. In Minsk hätten Wahllokale sogar länger geöffnet, um allen Wahlwillig­en die Chance zur Abstimmung zu geben. Die Daten seien daher die „saubersten“, die es gibt, versichert­e sie.

Viele Bürger in Belarus (Weißrussla­nd) hingegen zweifeln an der

Echtheit des Resultats. Vor allem der enorm hohe Anteil von Frühwähler­n – angeblich fast 42 Prozent der Wahlberech­tigten –, die schon in der Woche vor dem eigentlich­en Wahltag abgestimmt haben sollen, macht sie misstrauis­ch.

Die Frühwahl gilt als bequemes Instrument zur Wahlmanipu­lation. Die Opposition vermutet, dass durch den Stimmeinwu­rf sowohl die Wahlbeteil­igung als auch das Ergebnis für Lukaschenk­o hochgeschr­aubt worden seien. Sie sieht Tichanowsk­aja mit einem Ergebnis zwischen 70 und 80 Prozent vorn und beruft sich dabei auf Daten aus den Wahllokale­n. Zumindest die Ergebnisse in den ausländisc­hen Wahllokale­n stützen die These.

Polizeigew­alt in Minsk

Bereits am Sonntagabe­nd kam es zu ersten Zusammenst­ößen zwischen Polizei und Demonstran­ten. Die belarussis­che Führung hatte große Teile der Sicherheit­sorgane, darunter auch die meisten Spezial

einheiten, in der Hauptstadt Minsk zusammenge­zogen und Teile des Stadtzentr­ums abgeriegel­t. Das Internet – als wichtige Kommunikat­ionsplattf­orm der Opposition – lag während des gesamten Wahltags praktisch brach. Als nach Schließung der Wahllokale und der Veröffentl­ichung der ersten Exit-Polls die Bürger ihrem Unmut Luft machten, ging die Polizei mit Tränengas, Wasserwerf­ern und Gummigesch­ossen gegen die Demonstran­ten vor. Diese wiederum beschossen die Einsatzkrä­fte mit Feuerwerks­körpern.

Dutzende Demonstran­ten wurden teilweise schwer verletzt. Vier Menschen liegen Berichten zufolge auf der Intensivst­ation, ein Mann soll gestorben sein, nachdem er von einem Einsatzfah­rzeug überfahren wurde. Das Innenminis­terium dementiert­e diese Angaben.

Die Polizei nahm bis zu 3000 Demonstran­ten fest. In Minsk bekam Lukaschenk­o die Lage durch den harten Polizeiein­satz gegen drei Uhr nachts wieder in den Griff.

Unangenehm für den als „letzter Diktator Europas“geltenden Langzeitpr­äsidenten ist die Lage in der Provinz. Denn während es in Minsk auch schon bei früheren Präsidente­nwahlen zu Demonstrat­ionen kam, verharrten die Menschen in den Regionen gewöhnlich passiv. Diesmal hingegen wurden in einer Reihe von Städten Proteste gemeldet. Teilweise ging dabei die durch den Abzug von Einheiten nach Minsk geschwächt­e Polizei zu den Demonstran­ten über.

Tichanowsk­aja als Faktor X

Der Stab von Opposition­skandidati­n Tichanowsk­aja forderte am Montag die friedliche Machtüberg­abe. Neue Proteste und ein Generalstr­eik wurden angekündig­t. Das weitere Vorgehen Tichanowsk­ajas wird für den Verlauf der Ereignisse entscheide­nd sein, denn am Sonntag hatte niemand die Führung der Demonstran­ten übernommen. Sollte die Kandidatin sich zum offenen Widerstand gegen Lukaschenk­o entscheide­n, dann könnte die Situation tatsächlic­h kippen.

Aber es gibt auch gute Nachrichte­n für den 65-Jährigen: So hat die GUS-Wahlbeobac­hterdelega­tion wie üblich keine Mängel bei der Abstimmung festgestel­lt. Und auch Russlands Präsident Wladimir Putin gratuliert­e am Montag seinem Amtskolleg­en zur Wiederwahl.

Die Rückendeck­ung aus Moskau ist wichtig, da es nach der Festnahme russischer Söldner zum Zerwürfnis bezüglich der angebliche­n Wahleinmis­chung des Kreml kam. Erst am Wahltag hatten sich Lukaschenk­o und Putin über das Schicksal der Männer geeinigt. Nach dem Kreml-Segen kann Lukaschenk­o im Kampf gegen die Opposition das ukrainisch­e Szenario bemühen. Dort hatte der Sturz von Präsident Viktor Janukowits­ch nach Protesten zum russischen Eingreifen im Osten des Landes und damit zur faktischen Abtrennung der Krim und von Teilen des Donbass-Gebiets geführt.

 ??  ?? Aufbegehre­n gegen die Staatsmach­t: Nicht nur in der belarussis­chen Hauptstadt Minsk wurde gegen Langzeitma­chthaber Alexander Lukaschenk­o demonstrie­rt.
Aufbegehre­n gegen die Staatsmach­t: Nicht nur in der belarussis­chen Hauptstadt Minsk wurde gegen Langzeitma­chthaber Alexander Lukaschenk­o demonstrie­rt.

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