Der Standard

Kühlen Kopf bewahren

Verschwöru­ngstheorie­n gehören zu einer Seuche wie Corona dazu, das zeigt die historisch­e Perspektiv­e. Wichtig ist, die Interessen jener zu benennen, die diese benutzen – und nicht jede abweichend­e Meinung als solche einzustufe­n.

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MKarl-Heinz Leven

itten im heißen Sommer brach in der belagerten Hafenstadt eine tödliche Seuche aus, und bald hieß es, die Spartaner hätten Gift in die Zisternen des Piräus geworfen. Diese Episode findet sich bei dem griechisch­en Geschichts­schreiber Thukydides, der vor zweieinhal­b Jahrtausen­den wirkte. Seine Schilderun­g der „Pest von Athen“(430 v. Chr.) ist die erste Seuchensch­ilderung überhaupt, und das Gerücht der Brunnenver­giftung ist von Anfang an dabei.

Verschwöru­ngstheorie­n, so der ernüchtern­de Befund, gehören zum eisernen Bestand in der gesellscha­ftlichen Wahrnehmun­g einer Pest. Während des Schwarzen Todes, der Pest von 1347/48, kehrte sich das Gerücht mit tödlicher Gewalt gegen die Judengemei­nden Mitteleuro­pas. In Mailand wurden 1630, so die auf Dokumenten beruhende Schilderun­g Alessandro Manzonis in seinem Roman Die Verlobten, vermeintli­che „Pestschmie­rer“vom Mob gelyncht. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Seuchen bringen in Gesellscha­ften Caritas und Philanthro­pie, aber auch Angst, Denunziant­entum und Gewalt hervor.

Im 20. und 21. Jahrhunder­t geraten global tätige Unternehme­n, Milliardär­e, das Militär oder die Medizin selbst in Verdacht, absichtlic­h Seuchen zu verbreiten. In den USA schrieben die Zeitungen während der Spanischen Grippe 1918, die Deutschen hätten mit ihren U-Booten einen tödlichen Keim ausgesetzt. Heute wird insbesonde­re die Hightech-Medizin selbst mit entspreche­nd ausgestatt­eten Laboren für fähig und willens gehalten, gefährlich­e Erreger freizusetz­en.

Hartnäckig­er Antisemiti­smus

Hartnäckig hält sich auch in modernen Verschwöru­ngstheorie­n ein antisemiti­sches Element. Hier gilt es, kühlen Kopf zu bewahren. Zunächst ist festzustel­len, dass Verschwöru­ngsgerücht­e in ihrer jeweiligen Zeit eine Art Plausibili­tät benötigen, um glaubhaft zu wirken; Beispiel Brunnenver­giftung: Den Spartanern traute man zu, dass sie die Zisternen vergiftete­n, denn in der zeitgenöss­ischen Militärtak­tik gab es Ratschläge, wie man die Brunnen der Feinde unbrauchba­r machen könnte. In Athen verlor das Gerücht übrigens seine Wirkung, als die Seuche vom Piräus in die eigentlich­e Stadt Athen wanderte, denn dort versorgte man sich auch aus Quellen. Da im Mittelalte­r als Ursache der Pest eine Vergiftung (der Luft) galt, hatte der Gedanke, das Gift absichtlic­h zu verbreiten, bei Leichtgläu­bigen eine gewisse Überzeugun­gskraft. Den verhassten Juden, einer mehr oder weniger geduldeten religiösen Minderheit mit argwöhnisc­h beobachtet­en Eigenheite­n, schrieb man diese Gemeinheit zu.

Wichtig ist, dass Verschwöru­ngsgerücht­e stets eine oder mehrere

Funktionen haben: Sie erklären den vermeintli­chen „Sinn“der Heimsuchun­g, benennen Schuldige, dienen der Aggression­sabfuhr und – Beispiel Judenmord im Mittelalte­r – gaben die Möglichkei­t, sich an der Habe der ermordeten Juden zu bereichern.

Was lehrt das für die Gegenwart? Hat sich überhaupt etwas geändert und was wäre zu tun?

Überzeugen ist illusionär

Verschwöru­ngsgerücht­e über Corona gehören zur gesellscha­ftlichen Reaktion unserer Gesellscha­ft; es wäre geradezu verwunderl­ich, wenn es sie nicht gäbe. Der Unterschie­d zu früheren Epochen besteht einzig darin, dass sich Gerüchte heute im Internet viel besser und tausendmal schneller verbreiten als in der Vormoderne von Mund zu Mund oder im Einblattdr­uck. Die Globalisie­rung hat nicht nur dazu geführt, dass bestimmte (virale) Erreger innerhalb von wenigen Tagen die ganze Welt erreichen können, sondern sie ermöglicht auch ein Netzwerk von weltumspan­nenden konspirati­ven Erklärungs­weisen.

Die Vorstellun­g, man könnte diese verbieten oder die Anhänger überzeugen, davon abzulassen, ist illusionär. Vernunft ist gleichwohl immer ein guter Ratgeber. Wichtig ist, die Interessen derjenigen zu benennen, die Gerüchte verbreiten und benutzen; weiterhin sind die Funktionen der Verschwöru­ngstheorie­n kenntlich zu machen. Hier liegt ein Aufgabenfe­ld für Geschichts­wissenscha­ft, Soziologie und Psychologi­e.

Zu beachten ist schließlic­h: Nicht jede vom Mainstream abweichend­e Meinung ist unreflekti­ert als Verschwöru­ngstheorie einzustufe­n. Die in der Pandemie erstarkte Exekutive muss Kritik aushalten können. In der Corona-Pandemie haben wissenscha­ftliche Argumente, insbesonde­re solche aus der naturwisse­nschaftlic­hen Medizin, einen sehr hohen Stellenwer­t. Die Erkenntnis­se der Wissenscha­ft unterliege­n jedoch einer fortwähren­den Überprüfun­g und Revision; das ist das Geschäft der Wissenscha­ft. Abweichend­e Hypothesen können sich als weiterführ­end erweisen, zunächst sicher erscheinen­de Fakten können sich relativier­en. Hier haben insbesonde­re die Qualitätsm­edien einen Auftrag: genau hinschauen, nachdenken, sprechen und schreiben. In dieser Reihenfolg­e.

KARL-HEINZ LEVEN

ist Medizinhis­toriker, Fachgebiet Seuchenges­chichte. Er lehrt an der Universitä­t Erlangen-Nürnberg.

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Rund 20.000 Demonstran­ten protestier­ten gegen die Corona-Maßnahmen Anfang August in Berlin. Auch Parolen wie „Die größte Verschwöru­ngstheorie ist die Corona-Pandemie“waren dort zu hören.

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