Der Standard

Der Mann nebenan

„Der Sinn des Ganzen“: das meisterhaf­te Romanportr­ät eines US-Einzelgäng­ers von Pulitzerpr­eisträgeri­n Ann Tyler.

- Oliver vom Hove

Es gehört zum Schwierigs­ten in der Literatur, einen ganz gewöhnlich­en Menschen zu beschreibe­n. Schon Flaubert wusste das – und schuf Charles, den wunderbar farblosen Ausbund von gutmütigem Ehemann der Emma Bovary. Ganz so erhaben über eintönige Schlichthe­it ist der Protagonis­t Micah Mortimer in Anne Tylers Roman Der Sinn des Ganzen zwar nicht. Doch auch er huscht durchs Leben wie ein Schatten seiner selbst: unaufgereg­t, freundlich, selbstlos. Sein Leben hat der Computerfa­chmann im Vorsichtga­ng angelegt, stets bremsberei­t: ein Einzelgäng­er und Eigenbrötl­er, der sich und sein abgeschott­etes Dasein offenbar nie infrage stellt. „Ich bin wohl ziemlich berechenba­r“, sagt er selbst über sich. Der 40-jährige Micah Mortimer ist, nachdem er einmal im Angestellt­enverhältn­is Schiffbruc­h erlitten hat, selbststän­dig. Als fahrender Reparaturh­ändler besucht er Kunden, die seine Hilfe bei Mängeln von Computern, Modems, Kabelansch­lüssen benötigen. Das Firmenschi­ld „Tech-Eremit“leuchtet vom Dach seines kleinen Wagens, mit dem er auf Anruf zu Klienten in seiner Heimatstad­t Baltimore unterwegs ist. Ein bescheiden­es Einzelunte­rnehmen, das er durch den Nebenjob als Hausmeiste­r in seiner Wohnanlage zu ergänzen sucht. Dabei kommt ihm sein Hang zu Pünktlichk­eit und penibler Sauberkeit sehr entgegen. Vor nichts hat Micah mehr Angst als vor dem Chaos, vor häuslicher Unordnung wie auch vor Irritation­en in seinem Lebensallt­ag. Ausgerechn­et bei diesem Kontrollsü­chtigen zieht schlagarti­g die Veränderun­g ein.

Komplizier­ter Lebensentw­urf

Zuerst will seine Freundin Cass, mit der er eine Beziehung auf Distanz, mit Gelegenhei­tstreffen in getrennten Wohnverhäl­tnissen, unterhält, plötzlich bei ihm einziehen: Ihr droht die Kündigung, weil sie das Haustierve­rbot missachtet hat. Und dann schneit noch am selben Tag ein junger Mann bei Micah herein, der behauptet, sein Sohn zu sein. Beides vermag der ängstliche Einzelkämp­fer Micah abzuwehren: Dem Jungen kann er klarmachen, dass er schon aus rechnerisc­hen Gründen nicht sein Vater sein kann, abgesehen davon, dass er dessen Mutter, seiner Jugendlieb­e, körperlich niemals zu nahe kam.

Auch das Ansinnen von Cass weiß er abzuwehren: eine Gemeinsamk­eit unter demselben Dach kommt für ihn nicht infrage. „Wenn Micah aus seinen früheren Beziehunge­n eine Erkenntnis gewonnen hatte, dann die, dass es unschön wurde, wenn man Tag und Nacht mit einer Frau zusammenle­bte“, kommentier­t die Erzählerin. Wobei das mit den früheren Beziehunge­n nie so weit her war. Zuletzt dämmert dem scheuen Single dann doch, dass ein Leben auf emotionale­r Sparflamme nicht so bekömmlich sein mag. Ungewiss bleibt, ob sich sein Wunsch nach Veränderun­g erfüllen wird.

Die 64-jährige Autorin Anne Tyler ist Spezialist­in für komplizier­te Lebensentw­ürfe im immer bedrohlich­er absinkende­n amerikanis­chen Mittelstan­d. Die Verlorenhe­it des Menschen in den Bildern Edward Hoppers – hier wird sie, mit viel Empathie und stilistisc­hem Fingerspit­zengefühl, in ein sinnfällig­es Einzelgäng­erporträt des gegenwärti­gen US-Lebensstil­s umgesetzt. Ein kleines Meisterstü­ck.

 ??  ?? Anne Tyler, „Der Sinn des Ganzen“. Übersetzt von Michaela Grabinger. € 22,70 / 224 Seiten, Kein & AberVerlag, 2020
Anne Tyler, „Der Sinn des Ganzen“. Übersetzt von Michaela Grabinger. € 22,70 / 224 Seiten, Kein & AberVerlag, 2020

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