Der Standard

Den Pandemie-Sommer verschlafe­n

Ein Wiener Komplexitä­tsforscher fordert die Beschleuni­gung im Contact-Tracing von Corona-Infizierte­n.

- Peter Illetschko

Natürlich war das Virus nie verschwund­en, auch wenn manche Menschen es über den Sommer gern glauben mochten. Mit dem neuerliche­n, schon im Frühjahr vorhergesa­gten Ansteigen der Infektions­zahlen im Herbst waren aber auch diejenigen, die auf ein Wunder hofften, wieder auf dem Boden der Realität. Zu Beginn dieser aktuellen Phase – man sprach von Reiserückk­ehrern und überschaub­aren Clustern – hoffte man noch auf ein effiziente­s Contact-Tracing – schnelle Testungen und Ergebnisse, Isolation der Infizierte­n und die Identifika­tion der Infektions­quelle.

Aus der Sicht des Komplexitä­tsforscher­s Stefan Thurner blieb es bei der Hoffnung. „Das Contact-Tracing funktionie­rt nicht im gewünschte­n Ausmaß. Es ist einfach zu langsam. Verdachtsf­älle warten viel zu lange auf die Tests und auf die Ergebnisse“, kritisiert er. Kontaktper­sonen seien im Unklaren, ob sie angesteckt wurden, und liefen daher Gefahr, das Virus weiterzuge­ben – zumal eine Vielzahl an Infektione­n symptomlos verlaufe.

Thurner ist Präsident des Complexity Science Hub (CSH) in Wien-Josefstadt. Mit Beginn der Pandemie hat sein Team die Schwerpunk­te der Forschunge­n in Richtung Corona verschoben – und ist bis heute in einer Wissenscha­ftergruppe aktiv, die sich um die bestmöglic­hen Kurzfristp­rognosen bemüht. Das vielbespro­chene Contact-Tracing sei also das Problem. Politiker und Behörden hätten den Sommer verschlafe­n, „man hätte sich vorbereite­n können“. Aber wie? Durch einen höheren Grad an Digitalisi­erung, sagt Thurner. Wie er sich das vorstellt? Ungefähr so: Wer immer bei der Gesundheit­snummer 1450 anruft, um Beschwerde­n zu beschreibe­n, und damit auch einen Test beantragt, sollte sofort ein entspreche­ndes Formular via Smartphone erhalten, in dem er Kontaktdat­en von Personen bekanntgib­t, die er möglicherw­eise angesteckt haben könnte. „Das würde den Behörden viel Zeit ersparen, um Cluster zeitnah zu identifizi­eren“, sagt Thurner. Voraussetz­ung dafür sei selbstvers­tändlich ein öffentlich­er Diskurs über die Weitergabe von Daten zum Zwecke der Pandemiebe­kämpfung – erst nach einer gesellscha­ftlichen Übereinkun­ft darüber könne man die vorgeschla­gene Digitalisi­erung vornehmen. Und wenn darüber hinaus die Testungen mit mehr Personal schneller ablaufen, könne man das Virus sogar „logistisch ausrotten“, sagt Thurner. Schon im Frühjahr hätten Studien, die in renommiert­en Journals erschienen, diese Chance beschriebe­n. Er habe mit den Daten eine Simulation­srechnung durchgefüh­rt, die diese Studie bestätigt. „Ich verstehe nicht, warum man diese Vorschläge aus dem Frühjahr nicht umgesetzt hat.“

Das Verschlafe­n des nötigen Digitalisi­erungsschr­itts sei freilich kein österreich­isches, sondern ein weltweites Problem. „Das wurde nirgendwo so umgesetzt, dass man den Corona-Stress von der Bevölkerun­g nehmen könnte.“Thurner warnt aber vor Panik angesichts der nun steigenden Infektions­zahlen. „Wir wissen heute viel mehr über das Virus als noch im Frühjahr.“Man müsse aber versuchen, die Zahlen zu halten.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch ein Policy-Brief des Complexity Science Hub. Eine unkontroll­ierte Ausbreitun­g von Covid19 könne nach wie vor zu einer Überlastun­g des Gesundheit­ssystems führen. Diesen Punkt würde Österreich bei etwa 4700 bis 7800 Neuinfekti­onen täglich erreichen. Derzeit sind es knapp über 1000. Ein zweiter Lockdown könne verhindert werden, wenn die Bevölkerun­g Maßnahmen wie Hygiene und Abstandhal­ten mitträgt und – sollten die Fallzahlen weiter steigen – auf Risikoakti­vitäten wie private Feiern verzichtet. „Um das zu erreichen, sollten die Verantwort­lichen auf Aufklärung, Transparen­z und Empfehlung­en setzen statt auf Drohungen und Verbote“, heißt es im Brief.

„Die Digitalisi­erung wurde verschlafe­n.“

Stefan Thurner

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Mund-Nasen-Schutz in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln: Das Contact-Tracing sollte längst schneller laufen.
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