Verdoppelte Liebschaften
In Wien sogar 22 Jahre nach ihrer Entstehung ein Aufreger: Mozarts „Entführung aus dem Serail“wirkt in der intelligenten und verspielten Regie von Altmeister Hans Neuenfels zeitlos originell.
Das Phänomen der Nächstenliebe erfährt an der Wiener Staatsoper fortan eine interessante, heitere Auslegung: „Beruhig’ dich bitte, Belmonte“, fleht Belmonte II sein Gegenüber an – also Belmonte I. Die Beruhigungsworte seines Alter Ego nimmt Belmonte I gerne mit „Danke, Belmonte!“an. Ja, bisweilen ist so eine innere Stimme hilfreich, auch wenn sie ein bisschen nervt.
Den Nervösen beunruhigt hier die Existenzfrage seiner Konstanze. Die Sorgendame seines Herzens ist ja tatsächlich in gewaltigen Nöten, obwohl auch nicht einsam. Die singende und die sprechende Konstanze durchleben Duettdramen emotionalen Zwiespalts samt Todesnähe.
Bassa Selim, in dessen Harem dem Konstanze-Tandem eine Sonderstellung in Aussicht gestellt wird, umgarnt die Dame(n) heftig. Von romantisch hauchendem Liebesflehen bis zu polternder Drohgebärde reicht Bassas Überzeugungsrepertoire, das er ohne Doppelgänger abspulen muss.
Der Bassa hat ja keine Töne, obwohl er gerne welche hätte. Er ist in der Sprache gefangen, kann sich mit keinem zweiten Bassa austauschen. Da hat es Diener Pedrillo (singend Michael Laurenz, sprechend Ludwig Blochberger) leichter, seelisches Gleichgewicht zu finden. Vergisst er eine Phrase, wird eben der alternative Pedrillo zum rettenden Souffleur. Gottlob muss Zweifach-Pedrillo nicht mitansehen, wie seine doppelte Blonde sich der Übergriffe Osmins (solide singend Goran Jurić) erwehren muss. Dessen sprechender Schatten (Andreas Grötzinger) versucht zudem mit Liegestützen auf einer Hand zu beeindrucken. Etwas plump
Alles also zweifach hier, und zweifellos: Bei der Figur des Osmin, der Frauenköpfe und Gliedmaßen sammelt, hat sich Regisseur Hans Neuenfels einen grellen Scherz gegönnt, der ein bisschen plump daherkommt. Sein Kunstgriff, die Verdopplung der Figuren, wirkt allerDer dings wie eine Zauberquelle szenischer Inspiration: Diese Neudefinition der Zweisamkeit bietet die Möglichkeit zur pantomimischen Ausdehnung der Figuren. Auch lässt sich so die inhaltliche Rückseite der Gesänge erhellen, indem verborgene Aspekte der Charaktere darstellerisch kommentiert werden.
Und natürlich führt die Doppelstrategie zur Verselbstständigung szenischer Pointen, die Neuenfels virtuos und verspielt ins Licht des Skurrilen und Absurden stellt.
Altmeister behandelt eine Rolle quasi als musikalisches Thema, das er anhand der Figur des Doppelgängers variiert. Das wirkt als zweistimmiger Kontrapunkt, der sich in größeren Szenen zum raffiniert choreografierten, vielstimmigen szenischen Fugato weitet.
Die Arbeitsteilung der Doppelgänger ist denn auch kein aufgesetzter Running Gag. Sie ist Energiequelle einer Abhandlung über Emotionen, ein szenischer Essay über Zweisamkeit, der sich die eine oder andere frei assoziierte Fußnote gönnt. Geschenkt. Nichts führt zur Zersplitterung des Singspiels, dem Neuenfels in dieser aus dem Jahr 1998 stammenden Version auch durch Eingriffe in den Dialogtext Dichte und Gegenwartsnähe verliehen hat.
Jederzeit wird dafür gesorgt, dass Musiktheater zu sich selbst kommt: Wenn die Schauspielerin Emanuela von Frankenberg als Konstanze „Sing, Konstanze, sing!“fleht, schwingt sich Lisette Oropesa wieder einmal in Regionen besonderer Unmittelbarkeit auf. Trotz eines leicht flatternden Wesenszugs ihrer Stimme gelingen der Hausdebütantin (als Konstanze) Momente immenser Vokalpräsenz.
Auch sonst – im Serail, das einer Bühne in der Bühne gleicht (Christian Schmidt) – hohes vokales Niveau: Regula Mühlemann berückt als Blonde (nur kleine Unsauberkeiten) mit elegantem, hellem Sopran (Stella Roberts ist ihr schauspielendes Gegenüber). Und auch Daniel Behle kann seinen Tenor als Belmonte (sein Gegenüber ist der Schauspieler Christian Natter) kantabel und impulsiv entfalten.
Hätte Dirigent Antonello Manacorda da und dort vom hohen Tempo etwas mehr auf Entschleunigung umgeschaltet, es wäre vokal womöglich noch mehr Lyrik hörbar geworden. Mit dem Staatsopernorchester gelingt ihm allerdings eine muntere, pathosfrei angelegte, in sich stimmige Gangart.
Bassa Selim hat aber das letzte Wort, der Herrscher ohne Töne möchte ein Gedicht von Eduard Mörike vortragen. Christian Nickel tut es sanft – nach Protesten („Das gehört nicht dazu!“). Hier kündigten sich schon jene Buhs an, die Neuenfels (nebst Begeisterung) erreichen sollten. Sie zeigen: Es ist schmerzhaft, das Haus auch nur mit origineller Regiehistorie zu konfrontieren, deren Spuren in Arbeiten etwa von Claus Guth oder Christof Loy zu spüren sind. Umso pädagogisch wertvoller ist solch eine Repertoireauffrischung. 16., 20., 23. und 26. 10. Kleine Unsauberkeiten