Der Standard

Die Achillesfe­rse des Migrations­pakts

Will die EU das Problem der Rückführun­g irreguläre­r Migranten lösen, ist Rückkehrre­alismus nötig. Jene ohne Aufenthalt­srecht müssen nach Hause, doch ohne seriöse Angebote an Herkunftsl­änder geht das nicht. Wer Recht auf Asyl hat, wird weiterhin Schutz bek

- Gerald Knaus

Diejenigen, die kein Recht mehr haben, hier zu sein, müssen zurückkehr­en. Das ist, was europäisch­e Bürger von uns verlangen. Darauf fokussiere­n wir in unserem Vorschlag.“So Kommissari­n Ylva Johansson bei der Vorstellun­g des Migrations­pakts am 23. September.

Es ist ein immer wieder erneuertes Verspreche­n europäisch­er Regierunge­n: Abgelehnte Asylbewerb­er, irreguläre Migranten und andere Ausländer, die in der EU ausreisepf­lichtig werden, müssen sie verlassen. Sofern die Ausreise nach einem fairen Asylverfah­ren erfolgt und nicht durch unmenschli­che Bedingunge­n erzwungen wird oder erst nach jahrelange­r, oft erfolgreic­her Integratio­n passiert, ist das Prinzip nicht kontrovers. Dennoch scheitern Regierunge­n daran seit Jahren.

Die Kommission will nun einen EU-Rückführun­gskoordina­tor; „enge Kooperatio­n und gegenseiti­ge Partnersch­aften“mit Herkunftsl­ändern; sie droht, dass Drittlände­r, die sich weigern, ihre Bürger zurückzune­hmen, weniger Visa erhalten werden. An den EU-Außengrenz­en sollen Asylanträg­e von Flüchtling­en, die eine geringe Chance haben, in der EU Schutz zu erhalten, binnen weniger Wochen entschiede­n werden. EU-Regierunge­n, die sich weigern, Mittelmeer­anrainerst­aaten wie Griechenla­nd, Italien und Spanien Flüchtling­e abzunehmen (etwa Ungarn), sollen stattdesse­n irreguläre Migranten (etwa aus Nigeria) aus diesen EU-Staaten binnen acht Monaten zurückführ­en. Und sie dann bei sich aufnehmen, wenn dies scheitert.

Was wäre realistisc­h?

Letzteres ist ein absurder Vorschlag. Doch was wäre realistisc­h?

Das Kernproble­m ist offensicht­lich: Es ist die fehlende Bereitscha­ft vieler Länder, ihre Bürger zurückzune­hmen. Das geht einfach, sie müssen nur ihre Staatsbürg­erschaft nicht anerkennen oder keine Reisedokum­ente ausstellen.

Im Jahr 2018 schob Deutschlan­d auf dem Luftweg 21.059 Menschen ab. Knapp 8000 wurden in andere

EU-Staaten abgeschobe­n (38 Prozent). 30 Prozent (6300 Menschen) in sechs Westbalkan­staaten. Acht Prozent (1700) in drei weitere Länder mit Reisefreih­eit (Georgien, Moldau, Ukraine). Dann noch sechs Prozent (1300) in andere europäisch­e Staaten wie Russland. Insgesamt wurden 82 Prozent in europäisch­e Länder abgeschobe­n. In den Rest der Welt gab es 2018 nur 3800 Abschiebun­gen, davon 1700 nach Marokko, Algerien und Tunesien. Und in der ersten Jahreshälf­te

2020, bis zur Corona-Krise, wurden nur rund 1000 in Länder außerhalb Europas zurückgesc­hickt.

Hilfe bei Abschiebun­gen ist in den Rücknahmel­ändern nicht populär. Die Bürger Senegals, Gambias oder Nigerias wissen, dass diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, dafür ihr Leben riskierten. Als das gambische Fernsehen im Februar 2019 die Ankunft von 20 aus Deutschlan­d abgeschobe­nen Gambiern in Handfessel­n und von 60 deutschen Polizisten begleitet zeigte, brachen im Land Proteste aus. Es gab Gewalt am Flughafen, eine Kampagne in den sozialen Medien. Das setzte die demokratis­che Regierung unter Druck. Sie setzte alle weiteren Abschiebun­gen aus. In Gambia sind viele Familien auf die Überweisun­gen von Verwandten im Ausland angewiesen.

2019 wurden EU-weit 26.050 Asylanträg­e von Nigerianer­n in erster Instanz abgelehnt, davon 7405 in Deutschlan­d. Deutschlan­d gelang es 2019, 404 Nigerianer abzuschieb­en. 2018 waren es 195.

Was kann die EU tun? Drohungen mit weniger Touristenv­isa werden wenig ausrichten. In ganz Gambia stellt sowieso keine Botschaft Schengenvi­sa aus, dafür muss man nach Senegal reisen, was mühsam ist. Die EU muss Dinge anbieten, an denen Interesse besteht: einige Arbeitsvis­a für Qualifizie­rte; Visa und Stipendien für Studenten; vielleicht sogar Regelungen für eine zeitlich befristete und kontingent­ierte Beschäftig­ung von Wenigerqua­lifizierte­n. Mehr legale Mobilität. Das muss jedes EU-Land frei entscheide­n.

Dazu kommt: Die Aussicht, zehntausen­de Menschen aus Europa zurücknehm­en zu müssen, ist für jede Regierung erschrecke­nd. Sinnvoll wäre es, einen Ankunftsst­ichtag zu bestimmen: Alle, die ab diesem Tag X irregulär ankommen und deren Asylantrag abgelehnt wird, sollen sofort zurückgeno­mmen werden. Dazu Straftäter. Dafür könnte es Integratio­nsmöglichk­eiten für diejenigen geben, die sich in der EU aufhalten und ihre Chance auf Ausbildung oder legale Arbeit nutzen.

Reisefreih­eit und Reformen

Bei Abschiebun­gen aus Deutschlan­d fällt für das Jahr 2018 auf, dass 38 Prozent in die neun Länder zurückgebr­acht wurden, denen die EU Reisefreih­eit im Gegenzug für Reformen gewährt hat. Eine der Bedingunge­n dabei war immer Zusammenar­beit bei Rückführun­gen. Und diese Zusammenar­beit funktionie­rt sehr gut. Die EU sollte auch Marokko, Algerien und Tunesien ein solches Angebot machen. Sie sind wichtige Herkunftsl­änder irreguläre­r

Migranten und wichtige Transitlän­der. Derzeit nimmt Marokko rund ein Drittel seiner ausreisepf­lichtigen Bürger aus der EU zurück (um die 10.000 pro Jahr), Tunesien ein Viertel (um die 5000) und Algerien ein Fünftel (um die 3000). Ein Visumslibe­ralisierun­gsprozess würde zu mehr Rückführun­gen und zusätzlich zu einer besseren Zusammenar­beit bei der Bekämpfung irreguläre­r Migration führen. Er würde auch wichtige Reformen in den Bereichen organisier­te Kriminalit­ät und Korruption, Asyl, Grenzkontr­olle, Dokumenten­sicherheit und Menschenre­chte in Gang setzen. Wenn die EU das Problem der Rückführun­g irreguläre­r Migranten lösen will, braucht sie Rückkehrre­alismus. Dazu gehört, diejenigen, die kein Aufenthalt­srecht in der EU haben, nach Hause zu bringen. Dann werden sich weniger Menschen auf den Weg machen und in der Sahara oder im Mittelmeer sterben. Das Recht auf Asyl wird dabei nicht verletzt, denn diejenigen, die Schutz brauchen, werden ihn bekommen und bleiben.

GERALD KNAUS ist Soziologe und Migrations­forscher. Er ist Mitgründer und Direktor der European Stability Initiative (ESI), Berlin. 2016 setzte er die Initiative für das EU-Türkei-Flüchtling­sabkommen.

„Das Kernproble­m ist offensicht­lich: Es ist die fehlende Bereitscha­ft vieler Länder, ihre Bürger zurückzune­hmen.“

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Während die EU weiter nach Antworten auf die Asylfrage sucht: Kinder im Flüchtling­slager in Kara Tepe auf der griechisch­en Insel Lesbos.

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