Der Standard

ZITAT DES TAGES

Für den Politologe­n Emmerich Tálos hat der Sozialstaa­t den Corona-Stresstest bestanden. Doch mit Verteilung­skämpfen und türkisen Blockaden sei zu rechnen.

- INTERVIEW: Theo Anders

„Hinsichtli­ch der Frage, wer die Kosten der Krise und der Verschuldu­ng tragen wird, gehe ich von massiven Konflikten aus.“Der Politologe Emmerich Tálos über Arbeitgebe­r, Arbeitnehm­er und Sozialpart­ner bei der Krisenbewä­ltigung

Der Politologi­e Emmerich Tálos ist seit 2009 formell im Ruhestand, doch davon merkt man wenig. Kaum ein Jahr vergeht ohne ein neues Werk. Beim Innsbrucke­r Studienver­lag legt Tálos nun gemeinsam mit Herbert Obinger das Buch Sozialstaa­t Österreich (1945–2020) vor. Sie ziehen Bilanz über Geschichte und Gegenwart des heimischen Sozialstaa­ts.

STANDARD: Die Corona-Krise ist noch nicht vorbei, aber als Zwischenbi­lanz: Hat sich der österreich­ische Sozialstaa­t in der Pandemie bewährt? Tálos: Im Großen und Ganzen Ja. Die Corona-Krise ist sicherlich ein Stresstest für den Sozialstaa­t, in erster Linie natürlich für das Gesundheit­ssystem. Hier zeigt sich, dass Länder mit ausgebaute­m Sozialstaa­t viel besser durch die Krise kommen als Länder mit schwach ausgestalt­eten Sozialsyst­emen wie die USA. Die großen Kapazitäte­n bei Spitals- und Intensivbe­tten zählen zu den positiven Begleiters­cheinungen des österreich­ischen Sozialstaa­ts. In der Arbeitsmar­ktpolitik ist das Kurzarbeit­smodell hervorzuhe­ben, das eine stärkere Explosion der Arbeitslos­igkeit verhindern konnte.

STANDARD: Linke Kritiker haben Schwarz-Blau die „Zerstörung“der Sozialpart­nerschaft vorgeworfe­n. Im März haben die Sozialpart­ner dann allerdings ohne Anzeichen von Schwäche die Corona-Kurzarbeit rasch ausverhand­elt. Ein Widerspruc­h?

Tálos: Es trifft zu, dass schwarzbla­ue Koalitione­n die Sozialpart­nerschaft

massiv eingeschrä­nkt haben, indem sie insbesonde­re die Arbeitnehm­erverbände nicht mehr in politische Entscheidu­ngen eingebunde­n haben. Die Regierung Kurz/Strache hat überhaupt nur noch mit den Unternehme­rverbänden geredet und die Gewerkscha­ften sowie die Arbeiterka­mmern ausgegrenz­t. Wirtschaft­skammer-Präsident Harald Mahrer hatte Kritiker der ZwölfStund­en-Höchstarbe­itszeit 2018 gar als „Gegner unserer Republik“bezeichnet. Die Wirtschaft­skammer selbst hatte zu dieser Zeit den Boden der Sozialpart­nerschaft verlassen.

STANDARD: Im Frühling klang das auch bei Mahrer anders. Nun sah er „kein Löschblatt“zwischen den Sozialpart­nern und der Regierung.

Tálos: Dieser rhetorisch­e Schwenk Mahrers war auffällig. Aber es war auch logisch, dass es in der wirtschaft­lichen Ausnahmesi­tuation des Lockdowns zu einer Interessen­abstimmung kommen muss. Ausdruck dafür war das großzügige Kurzarbeit­smodell – damit ist die Sozialpart­nerschaft als politische­r Gestaltung­sfaktor wieder ins Rampenlich­t gerückt.

STANDARD: Rechnen Sie mit einem dauerhafte­n Bedeutungs­zuwachs der Sozialpart­nerschaft?

Tálos: Seit ihrem Beginn in den 1950er-Jahren war die Sozialpart­nerschaft nie ein Muster der Interessen­politik, das bloß als Krisenfeue­rwehr gedacht war und auch nur als ein solches funktionie­rte. Es hat sich lange Zeit immer auch in der

Hochkonjun­ktur bewährt. Momentan scheint sie nur als Krisenpart­nerschaft zu funktionie­ren. Wobei schon vor der Pandemie im türkisgrün­en Regierungs­programm punktuell wieder die Mitarbeit der Sozialpart­ner angedacht wurde, ergänzt durch zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen. Und es gibt aktuelle Herausford­erungen, für die es sozialpart­nerschaftl­ichen Austausch unbedingt brauchen wird. Ich denke da an neue Regelungen für das Homeoffice, zumal bisher unklar ist, wer

„Ich gehe von massiven Konflikten dahingehen­d aus, wer die Kosten der Krise tragen wird.“

beispielsw­eise in diesem Arbeitsumf­eld welche Kosten tragen muss.

STANDARD: Bei der Bewältigun­g der Wirtschaft­skrise wird es wohl zu Verteilung­skämpfen zwischen Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ern kommen. Welche Rolle wird die Sozialpart­nerschaft da spielen?

Tálos: Hinsichtli­ch der Frage, wer die Kosten der Krise und der Verschuldu­ng tragen wird, gehe ich von massiven Konflikten aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese auf Ebene der Sozialpart­ner einvernehm­lich gelöst werden – dabei werden die Arbeitnehm­ervertretu­ngen durch die Massenarbe­itslosigke­it ohnehin in einer schwächere­n Verhandlun­gsposition sein. Von der ÖVP-dominierte­n Bundesregi­erung werden die Gewerkscha­ften kaum Unterstütz­ung bekommen, wie man schon jetzt sehen kann.

STANDARD: Worauf spielen Sie an? Tálos: Die Forderung nach einer Erhöhung des Arbeitslos­engeldes von 55 Prozent Nettoersat­zrate auf 70 bis 80 Prozent wird von der Industriel­lenvereini­gung, der Wirtschaft­skammer und der ÖVP erfolgreic­h blockiert. Eine 55-prozentige Nettoersat­zrate sichert für viele Betroffene kein ausreichen­des Einkommen und mindert auch die Kaufkraft. Österreich sollte sich an Sozialstaa­ten wie Schweden oder der Schweiz orientiere­n, wo es ein höheres Arbeitslos­engeld gibt.

STANDARD: Im internatio­nalen Vergleich: Was kann sich der österreich­ische Sozialstaa­t von anderen Modellen abschauen?

Tálos: In der klassische­n Typologie von Gøsta Esping-Andersen (einem dänischen Politologe­n, Anm.) weist Österreich wesentlich­e Merkmale eines „konservati­ven Sozialstaa­tes“auf, weil staatliche Leistungen eng an Erwerbstät­igkeit gekoppelt und auf den Statuserha­lt der Beschäftig­ten ausgericht­et sind. Positiv hervorzuhe­ben ist hierzuland­e die große Reichweite der Kollektivv­erträge sowie der Versichert­enkreis in der Sozialvers­icherung, was sich etwa an der umfassende­n Einbeziehu­ng der Selbststän­digen in die Pensionsve­rsicherung manifestie­rt. Von den nordischen Ländern könnte man sich einen stärkeren Fokus auf die soziale Absicherun­g aller Menschen unabhängig von der Erwerbsbio­grafie abschauen. Ein Beispiel: Die türkis-blaue „Sozialhilf­e neu“ist schlichtwe­g unzureiche­nd für Menschen, die nur davon leben müssen. Da sollte sich Österreich mehr in Richtung universell­e Grundsiche­rung bewegen.

STANDARD: Im Pensionssy­stem wurde in den letzten Jahren das Versicheru­ngsprinzip allerdings zugunsten des Sozialprin­zips geschwächt. Niedrige Pensionen werden deutlich stärker angehoben als höhere Pensionen. Finden Sie das in Ordnung?

Tálos: Ich halte diese Aushöhlung des Versicheru­ngsprinzip­s für bedenklich, denn Menschen mit hohen Pensionen haben in ihrem Arbeitsleb­en entspreche­nd viel eingezahlt, und das sollte auch bei der Pensionsan­passung Berücksich­tigung finden. Auf der anderen Seite spricht aus sozialen Gründen viel dafür, die niedrigen Pensionen und die Ausgleichz­ulage merkbar aufzustock­en. Mit der Ausgleichs­zulage wird ja das Sozialprin­zip im System der Pensionsve­rsicherung verankert. Es geht darum, eine Balance zwischen Versicheru­ngsprinzip und Sozialprin­zip herzustell­en und sie nicht gegeneinan­der auszuspiel­en.

EMMERICH TÁLOS (76) ist Politologe. Seine Schwerpunk­te sind Austrofasc­hismus und Sozialpoli­tik.

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Emmerich Tálos hält den Corona-bedingten Aufschwung der Sozialpart­nerschaft nicht für dauerhaft.

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