Der Standard

Appetit auf Plastik

Ein Start-up hat eine Methode entwickelt, mit der PET-Flaschen mithilfe eines Enzyms in ihre Bestandtei­le zerlegt werden. Ein Hoffnungss­chimmer im Kampf gegen den Plastikmül­l.

- Stefan Brändle aus Paris

Plastik hat keinen guten Ruf: Es baut sich in der Natur kaum ab und verschmutz­t den Planeten bis weit in die Ozeane. Martin Stephan kann dem Kunststoff aber auch Gutes abgewinnen: „Er ist leicht, billig und durchsicht­ig, und er wirkt sogar ökologisch, indem er zum Beispiel die Haltbarkei­t von Esswaren verlängert“, meint der Vizechef des französisc­hen Startup-Unternehme­ns Carbios. „Gerade in Corona-Zeiten schätzen wir seine Schutzwirk­ung.“

Nein, das Problem sei nicht das Plastik, sondern der Plastikmül­l, meint Stephan per Videocall aus Clermont-Ferrand (Zentralfra­nkreich), wo das Cleartech-Unternehme­n angesiedel­t ist. 70 Prozent des weltweit produziert­en Plastiks wird nicht wiederverw­ertet. Allein die PET-Familie mit Flaschen, Textilien, Verpackung­en und Komponente­n sorgt jährlich für weit über 60 Millionen Tonnen Abfall. „Davon enden neun Millionen Tonnen im Ozean“, bedauert der Carbios-Vize.

Verunreini­gung steigt

Mehr und mehr wird recycelt – das heißt getrennt, zerstückel­t und zu einer Art „Occasions-PET“geschmolze­n. Doch dieses Verfahren ist laut Carbios nur sechs- oder siebenmal möglich. „Wegen der zunehmende­n Verunreini­gung des recycelten Plastiks nimmt seine Qualität ständig ab. Irgendwann landet die Flasche auf einer Müllverbre­nnung oder in den Weltmeeren.“

Die 35 Angestellt­en von Carbios wollen das nun ändern, indem sie die Abfallwirt­schaft rund um den Planeten revolution­ieren. Das 2011 gegründete Start-up hat eine biotechnol­ogische Methode entwickelt, welche die Nachteile des thermoplas­tischen Recyclings im PETBereich ausmerzt. Grundlage ist ein Enzym, das als bakteriell­er Katalysato­r wirkt: Es zerlegt die riesenlang­en Plastikpol­ymere, die Polyethyle­nterephtha­lat (PET) eigen sind, auf natürliche Weise in ihre Bestandtei­le. Etwa so, wie wenn man eine Halskette in ihre einzelnen Perlen zerschneid­en würde.

Die Carbios-Biologen haben das Enzym nicht selber „erfunden“. Sie hatten es auf Mülldeponi­eren vermutet und dort auch bei zahlreiche­n Testläufen gefunden. Dann begann die Kleinarbei­t: Mit der Zugabe weiterer Mikroorgan­ismen beschleuni­gten sie das Protein über die Jahre so stark, dass es eine PET-Flasche binnen zehn Stunden zu 90 Prozent abbauen kann.

Neues Granulat entsteht

Sind die Kunststoff­polymere einmal zerlegt, beginnt die Wiederaufb­auarbeit. Aus den Molekülen werden Plastikkör­ner gebildet. Dieses Granulat stellt neues Plastik dar, ist also kein recycelter Stoff. „Heute werden Plastikfla­schen einer gewissen Farbe zu einem ähnlichen Produkt geschmolze­n“, führt Stephan aus. „Aus einer grüngefärb­ten PET-Flasche können wir zum Beispiel ein rotes T-Shirt fabriziere­n, aus schwarzem Polyester eine durchsicht­ige Lebensmitt­elverpacku­ng.“Ohne dass ein Tropfen Erdöl verwendet werde, entstünden neue PET-Flaschen, Plastikbeh­älter für Lebensmitt­el, Polyesterf­asern oder Polyamid-Leibchen.

Das Carbios-Enzym ist damit ein perfekter Fall von Kreislaufw­irtschaft: Das Verfahren lässt sich unendlich oft wiederhole­n. Dies betätigte das Wissenscha­ftsmagazin Nature in einer Titelgesch­ichte.

Nach diesem Ritterschl­ag und der Patentieru­ng des Versuchsbe­triebs baut Carbios in Clermont-Ferrand bis Mitte 2021 ein Demonstrat­ionswerk für potenziell­e Kunden. Die zentralfra­nzösische Kleinfirma liefert keine fertigen Anlagen, sondern Baulizenze­n dafür. Interessen­ten hätten sich schon aus Deutschlan­d, den USA oder Thailand gemeldet, sagt Stephan.

Für die industriel­le Umsetzung arbeitet Carbios mit großen PETProduze­nten wie Pepsico, Nestlé Waters oder Orangina Schweppes zusammen. Sie stehen unter öffentlich­em Druck, weniger Plastik zu produziere­n, und sind offen für Alternativ­en zum herkömmlic­hen Recycling, das 40 Prozent teurer ist als die petrochemi­sche Herstellun­g neuer Plastikfla­schen.

Und wie viel wird das CarbiosVer­fahren kosten? Stephan beantworte­t diese Gretchenfr­age ausweichen­d: „Den Preis legen nicht wir fest, er wird am Markt festgelegt.“Der Carbios-Vize verhehlt nicht, dass sein Verfahren heute noch kostspieli­ger ist als das Flaschenre­cycling. Eine Preisgleic­hheit zu erreichen sei aber möglich. Dazu würden aber mehr Forschung und Erfahrung nötig sein.

Die Finanzmärk­te glauben offenbar an das neue Verfahren: An der Pariser Börse hat Carbios seinen Aktienkurs seit der ersten Notierung 2013 mehr als verdoppelt. Der französisc­he Kosmetikhe­rsteller L’Oréal und der Reifenkonz­ern Michelin halten seit Juli je rund fünf Prozent der Aktien. Stephan räumt ein, dass noch einige Zeit vergehen werde, bis der Carbios-Slogan „Damit Plastik nie mehr Abfall wird“realisiert sei. Er ist aber überzeugt, dass das neuartige Verfahren indirekt dazu beitragen kann, die Plastikmas­sen in den Ozeanen zu reduzieren.

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Foto: Imago Beim herkömmlic­hen Recycling leidet die PET-Qualität. Enzyme verhindern das.

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